Zorn der Meere
Verbrechen?«, erkundigte sich Francois mit tonloser Stimme.
Jan Pelgrom vermochte nichts zu sagen. In stummer Bitte richtete er sein tränennasses Gesicht zu Francois empor.
»Ich werde mir etwas für dich ausdenken«, murmelte Francois. Dann wandte er sich zu den Soldaten um und bedeutete ihnen, Jan zurück zu den wartenden Booten zu führen.
Unter den umstehenden Frauen wurden empörte Rufe laut.
Andere begannen, in ohnmächtiger Wut zu weinen.
Lucretia betrachtete Francois. Sie fand, dass auch sein Gesicht dem eines Toten glich, und zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte sie einen Anflug von Mitleid mit ihm.
Francois ist grenzenlos erschöpft, stellte sie fest und erkannte, dass seine Klugheit und sein Geschick ihm als Kaufmann dienen mochten, ihm im Umgang mit Gleichgesinnten zugute kamen oder auch seiner Rolle als Gesandter der Companie nutzten.
Doch dazu, dass er auch in Ausnahmesituationen bestand, reichte beides nicht aus, dafür war der Charakter, gegen den diese beiden Tugenden anzukämpfen hatten, zu schwach.
Auch das, was heute geschieht, ist für Francois zu gewaltig, grübelte Lucretia weiter, dafür ist er nicht kalt und grausam genug. Wie sonderbar, schloss sie ihre Gedanken ab, dass ihn ein größeres Maß an Kälte und Grausamkeit vermutlich besser
-487-
hätte bestehen lassen. Es hätte ihn stärker gemacht, Extremes zu ertragen.
Schließlich wanderten alle schweigend zu den Booten zurück, und die Insel gehörte wieder den Robben.
In wenigen Tagen würde, bis auf die zerfallenen Hütten und die knarrenden Galgen, nichts mehr daran erinnern, dass hier jemals Menschen eingedrungen waren.
An Bord der Zandaam
Francois hatte sich an seinem Schreibtisch niedergelassen, um die Ereignisse des Tages in sein Handbuch einzutragen. Als er den Blick hob, sah er, dass die sinkende Sonne blutrote Fächer auf die Fensterscheiben malte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Dort hinten auf der Robbeninsel werden sich jetzt die Vögel langsam niederlassen, dachte er, und die Schnäbel, mit denen sie an den Leichen gepickt haben, zum Schlafen unter ihre Flügel stecken. Als es an seiner Tür klopfte, schrak Francois zusammen.
»Tretet ein«, murmelte er.
Es war Lucretia.
Francois erhob sich, um ihr einen Sessel anzubieten.
»Das war alles sehr schrecklich für dich, nicht wahr?«, begann Lucretia und setzte sich.
»Es war ein Tag, den ich gern vergessen würde«, erwiderte Francois während er erstmalig in Ruhe Lucretias Aussehen studierte.
Sie ist noch immer sehr schön, dachte er, doch irgendetwas ist mit ihrer Schönheit geschehen, etwas hat sich verändert, wenngleich ich nicht auf Anhieb sagen könnte, was es ist.
Sie kommt mir vor wie eine ehedem vollendete Skulptur, erkannte Francois plötzlich, eine Skulptur, die eine ruchlose
-488-
Hand geschändet hat. Und gerade die Zerstörung ist es, die ihre Schönheit betont, wohl weil sie den Betrachter nun gleichsam mit Bedauern rührt.
Ja, befand er schließlich, genau das ist es: Lucretia hat etwas Tragisches angenommen, doch das verleiht ihr ein größeres Maß an Stärke als zuvor. Jammern und klagen wird sie jedenfalls nicht.
»Warum hast du den Jungen begnadigt?«, erkundigte sich Lucretia.
»Aus Mitleid, aus Erbarmen - warum fragst du? Hätte ich es deiner Ansicht nach nicht tun sollen?«
»Er war ebenso grausam wie die anderen.«
Francois hob die Schultern. »Ich hatte mit einem Mal genug.
So viel Sterben und Tod...«
»Ich weiß nicht, ob ich dich jemals begreifen werde, Francois«, bemerkte Lucretia verwundert.
»Wie solltest du, wenn ich mich selbst kaum begreifen kann.«
Lucretia wirkte mit einem Mal zornig. »Du machst es dir gern leicht, Francois, nicht wahr? Es is t bequem, sich mit dem eigenen Unvermögen abzufinden. Es nimmt dir die Verpflichtung ab, zu kämpfen.«
»Ist deine Meinung über mich tatsächlich derart schlecht geworden?«
»Sie ist nicht schlecht. Ich habe sie lediglich beschrieben.«
Francois lächelte gequält. »Es fällt mir schwer, das zu glauben, Lucretia. Dafür bist du zu sehr erzürnt. Warum sagst du mir nicht, weshalb du zu mir gekommen bist? Um mich zu verurteilen oder um über den Jungen zu reden?«
»Weder noch. Es geht um Wouter Loos.«
»Was ist mit ihm?«
-489-
»Ich finde, ihn solltest du ebenfalls gnädiger behandeln als die anderen.«
»Ich habe keineswegs vor, Pelgrom gnädig zu behandeln.
Falls du das geglaubt hast, hast du dich geirrt. Er wird auf dem
Weitere Kostenlose Bücher