Zorn: Thriller (German Edition)
er begriff. Also nickte er.
»Arto Söderstedt«, meldete sich Söderstedt in den Hörer des Satellitentelefons.
Eine Männerstimme sagte auf Schwedisch: »Im Hinblick auf die Konsequenzen für die Gesellschaft und im Hinblick darauf, dass man Protest nicht mit wahrem Widerstand vergleichen kann, sind wir gezwungen festzustellen, dass es in einer kapitalistischen Gesellschaft keine Unschuldigen gibt.«
»Wie ich höre, haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht«, entgegnete Söderstedt.
»Das Schlussplädoyer einer mehr als zwei Jahrzehnte alten Abhandlung über theoretischen Marxismus, verfasst an der Universität Uppsala«, erklärte die Männerstimme. »Wenn ich mich recht erinnere, trug sie den Titel Marxismus im Alltag . Diese These wurde ziemlich wortgetreu in diversen Artikeln der linksgerichteten Presse wiedergegeben. Und der Verfasser, der später Polizist wurde, hieß Arto Söderstedt.«
»Und Sie heißen Viktor Larsson und haben zehn Personen ermordet. Wer von uns ist also der Verbrecher?«
»Zehn?«, fragte Viktor Larsson. »Marina ist also gestorben?«
»Spielt das irgendeine Rolle?«, fragte Söderstedt. »Sie haben ihr Fleisch doch bekommen.«
»Das war eine Frage des Prinzips«, entgegnete Larsson. »Aber darauf können wir später noch zurückkommen. Die Antwort auf Ihre Frage lautet jedenfalls: Sie sind es.«
»Ich bin der Verbrecher?«
»Die Ansichten, für die Sie sich in Ihren Artikeln zum Sprachrohr gemacht haben, haben dazu geführt, dass im 20. Jahrhunderts mehr Menschen ermordet wurden als in der gesamten Zeit des Nationalsozialismus. Und zwar erheblich mehr. Aber Nationalsozialismus ist das hässlichste Wort, das ich kenne – Kommunismus hingegen hat immer noch etwas Reines, Idealistisches. Ich bin der Meinung, dass alle, die jemals eine kommunistische Gesellschaft gepredigt haben, an den Pranger gestellt werden und gestehen müssen, dass sie direkt oder indirekt für Völkermord, für die barbarischsten Übergriffe, die die Menschheit je gesehen hat, plädiert haben. Alle wussten davon, dass Vorfälle wie die Nasino-Affäre immer wieder stattfanden, und zwar überall, wo kommunistische Regime an der Macht waren. Und dennoch waren große Teile der Linken weiterhin versessen auf den Totalitarismus. Und sind es heute noch.«
»Und was wollen Sie denn nun eigentlich?«
»Ich habe zehn Menschen getötet, aber der Kommunismus hat hundert Millionen getötet. Was glauben Sie wohl, was ich will?«
»Vermutlich mich töten.«
»Setzen Sie sich ins Schlauchboot und kommen Sie rüber. Und zwar allein.«
»Allein?«, fragte Söderstedt und warf Chavez einen Blick zu. Chavez schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er begann zu verstehen.
»Allein«, wiederholte Viktor Larsson.
Söderstedt legte auf und justierte etwas unbeholfen sein Achselhalfter mit der russischen Pistole. Dann halfen ihm Svenhagen und Chavez, das Schlauchboot zu Wasser zu lassen. Arto Söderstedt setzte sich hinein und nahm das Paddel von Sara Svenhagen entgegen. Er nickte, warf ihr einen beruhigenden Blick zu und stieß sich vom steinigen Ufer ab.
Es war nicht ganz leicht, das Paddel mit der fest eingegipsten rechten Hand zu halten. Die linke Hand musste den Löwenanteil übernehmen. Anfänglich hatte er das Gefühl, dass der Strom das Boot vollständig ergreifen und seitlich an Nasino vorbeitreiben würde, doch dann zeigten seine Paddelbewegungen Wirkung. Langsam, aber sicher näherte er sich der Insel, wenn auch in stark diagonaler Linie. Mehrere Male war das Boot kurz davor zu kentern, doch es gelang Söderstedt, es wieder auszubalancieren, und schließlich stieß es vor Viktor Larssons Monte Christo auf Grund.
Söderstedt sprang aus dem Boot und atmete erleichtert aus. Dann zog er es zwischen den Pappeln ans Ufer hoch. Er legte das Paddel ins Boot und zückte seine Waffe. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Pistole in der linken Hand zu halten, aber er hatte am Vorabend mehrere Stunden lang in dem sibirischen Schießstand trainiert. Kurz bevor er zum Arzt gegangen war, um seinen rechten Unterarm eingipsen zu lassen.
Die Sonne war nach der wilden Überfahrt fast am Horizont versunken, weshalb eine außergewöhnliche Atmosphäre über Nasino lag. Auf dieser Insel waren unaussprechliche Gräueltaten verübt worden. Es schien, als wirkte die Schwerkraft an diesem Ort besonders stark.
Söderstedt kauerte sich hinter einen Hügel und sah sich um. Mit jeder Minute wurde es dunkler. Um sich herum konnte er nur noch
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