Zorn - Tod und Regen
Plan gewesen sein, er hat keine Sekunde vorgehabt, das alles hier zu überleben. Das Einzige, was er will, ist Stapics Tod. Zorn wunderte sich selbst, dass er absolut keine Angst empfand. Nur eine unerklärliche Wut. Und Ratlosigkeit.
»Was soll das, verdammt? Spielst du hier ein bisschen Hollywood?«
Mahler schwieg.
»Erschieß ihn, Kommissar«, sagte Stapic leise. »Er wird uns alle umbringen.«
Zorn beachtete ihn nicht.
»Was hättest du getan, wenn ich nicht gekommen wäre, Henning? Dein eigenes Kind in die Luft gesprengt? Dann bist du nicht besser als er!«
»Sie ist gelähmt, Claudius. Und ich würde mich nie um sie kümmern können, wenn ich im Knast sitze. Wer weiß? Vielleicht hätte ich ihr damit einen Gefallen getan?«
»Was bist du nur für ein Arschloch!«
»Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du läufst jetzt los und rettest dich. Wenn du das tust, nimm Ella mit. Oder du erschießt mich. Es gibt hier noch einen Knopf. Wenn ich ihn drücke, geht das Ding sofort los. Und glaub mir, das werde ich tun, selbst wenn du mir eine Kugel in den Kopf jagst.«
Zorn sah auf die blinkenden Zahlen.
»Vier Minuten, Claudius.«
Stapic streckte Zorn die gefesselten Hände entgegen. »Bring mich hier raus, Kommissar. Du bist Polizist, du darfst mich nicht zurücklassen.«
Seine Nase war zu einem unförmigen Klumpen angeschwollen, die Zähne schimmerten schwarz vom Blut.
»Sivo wird hierbleiben. Und sterben«, sagte Mahler ruhig. Sein Daumen schwebte über dem Zünder. »Ich habe diese Frau ermordet, und dafür bezahle ich jetzt. Vielleicht hätte ich mich weigern sollen, ich weiß es wirklich nicht. Wenn ich es getan hätte, wäre Ella jetzt tot. Deshalb ist es gut, dass du gekommen bist, Claudius. Kümmere dich um sie. Ins Gefängnis gehe ich nicht, aber ich denke, mein Tod ist eine angemessene Strafe. Und diesen kroatischen Hurensohn werde ich mitnehmen.«
Einfache, klare Sätze. Mahler wusste, was er da sagte. Sein Entschluss stand seit langem fest.
Zorn versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen. Es gelang ihm nicht. Die Mauern des Gasometers begannen, vor seinen Augen zu kreisen, drehten sich wie ein führerloses Karussell.
»Drei Minuten, Claudius.«
Er sah Malina vor sich. Ihre Augen, von denen er noch immer nicht wusste, welche Farbe sie hatten. Dann dachte er an Schröder.
»Beeil dich Claudius.« Henning Mahler lächelte ihn an. »Sag Ella, dass ich sie lieb habe.«
Stapic zerrte verzweifelt an seinen Fesseln.
Zorn nickte. »Mach’s gut, Henning.«
Dann nahm er das schlafende Mädchen auf den Arm.
Und rannte, so schnell er konnte.
*
Im ersten Moment schien es, als würde der Gasometer der Explosion standhalten. Die Druckwelle war gewaltig, sie fegte über das Gelände wie ein Taifun. Blitze zuckten auf, Staub und Schutt wirbelten empor, Steine und Metallsplitter flogen wie Geschosse durch die Luft und krachten in die benachbarten Bürogebäude. Sekunden später herrschte Ruhe.
Es war, als würde die Zeit angehalten.
Dann hoben sich die dicken Mauern des Gasometers. Es knirschte, ein dumpfes, gequältes Dröhnen erscholl, wie der Schrei eines urzeitlichen Tieres. Quer über die Außenwand zog sich ein tiefer Riss.
Dann rutschte das alte Gebäude schlagartig wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Alles, was übrig blieb, war ein riesiger Haufen aus Schutt und verbogenen Metallträgern.
Doch es war noch nicht vorbei.
Die Erschütterung ließ den alten Schornstein auf dem Gelände des Autohauses bis in die Fundamente erbeben. Er neigte sich langsam, fast bedächtig, brach am Fuß und stürzte dann zur Seite. Und während das blaue Emblem auf der Spitze sich weiter um die eigene Achse drehte, streifte der Schornstein eine Hochspannungsleitung und krachte schließlich in das Dach eines Einkaufszentrums.
Dann war es wieder still.
Totenstill.
Eine riesige Staubwolke stieg auf, wurde vom Wind erfasst und trieb langsam in Richtung Süden. In dem Moment, als sie das Stadtklinikum erreichte, schlug Kommissar Schröder auf der Intensivstation für ein paar Sekunden die Augen auf.
*
Am frühen Morgen stand Claudius Zorn mit einem Kaffeebecher in der Hand am Fenster seines Schlafzimmers und blickte hinab auf die Stadt.
Besser gesagt auf das, was von ihr übrig war.
Links von ihm ragte die Anhöhe mit den qualmenden Trümmern des Gasometers aus dem Wasser, das in der letzten Nacht wie die biblische Sintflut über die Stadt gekommen war. Im Einkaufszentrum war Feuer ausgebrochen, eine
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