Zorn - Tod und Regen
gefälligst Platz machen solle. Ehe er etwas sagen konnte, hatte sie das Essen auf den Tisch gestellt und war verschwunden.
Zorn betrachtete angewidert seinen Salat, einen undefinierbaren Haufen staubtrockenen Grünzeugs. »Ich habe keinen Hunger«, sagte er, warf einen neidischen Blick auf Schröders Nudelsuppe und griff nach einer Zigarette.
»Jetzt wird gegessen«, sagte Hannah barsch, nahm ihm die Zigarette aus dem Mund und reichte ihm die Gabel. »Los!«
*
Später standen Zorn und Schröder vor dem
Basement
. Sie hatten unter dem Balkon eines alten, barocken Bürgerhauses Schutz vor dem Regen gesucht. Hannah war bereits wieder im Präsidium. Vielleicht, hatte Zorn zu ihr gesagt, ist Sauer ja noch immer unterwegs, dann könne sie die Akte sofort zurück in den Safe legen.
Zorn schlug den Jackenkragen hoch. »Ich werde mich wohler fühlen, wenn das Scheißding wieder im Tresor ist.«
»Willst du ihn wirklich beschatten, Chef?« Schröder trug einen altmodischen Blouson aus giftgrünem Nylon, die Kapuze war im Kragen integriert, er hatte sie herausgenommen, aufgesetzt und sah irgendwie aus, als hätte er eine Einkaufstüte auf dem Kopf, die ihm tief über die Augen hing.
»Mir fällt nichts anderes ein. Du weißt, wo er wohnt, oder?«
»Noch nicht«, erwiderte Schröder. »Aber das ist wohl unser geringstes Problem.«
»Morgen früh wissen wir endlich, wer die Leiche ist.« Eine Straßenbahn bog laut quietschend um die Ecke, der Lärm war ohrenbetäubend. »Und geheim halten können wir das nicht«, fuhr Zorn laut brüllend fort. »Wir müssen uns irgendwas einfallen lassen, vielleicht behaupten wir, dass wir durch Zufall auf ihre Identität gekommen sind. Als Erstes werden wir beide ihre Wohnung checken, danach rufen wir die Spurensicherung und machen das Ganze offiziell.«
Schröder zog fröstelnd die Schultern hoch und nickte.
»Was ist mit den eingeritzten Buchstaben?«
»Darum kümmerst du dich, wenn du Zeit hast. Heute Abend ist Sauer an der Reihe. Ich übernehme die erste Schicht, sagen wir bis Mitternacht.«
Schröder sah nachdenklich zu Boden. »Wir sind Polizisten«, sagte er nach einer Weile. »Und wir verletzen gerade so ziemlich jede Dienstvorschrift, die es gibt.«
»Ich weiß.«
»Mir gefällt das alles nicht, Chef.«
»Mir auch nicht, Schröder, mir auch nicht.« Hauptkommissar Zorn strich das regennasse Haar zur Seite. »Aber mir fällt nichts Besseres ein.«
Dann schickte er Schröder zurück ins Präsidium.
*
Zorn, der dringend nachdenken musste, hatte sich entschieden, zum Präsidium zu laufen. Er konnte es nicht leiden, unfreiwillig direkten körperlichen Kontakt mit fremden Menschen zu haben. Öffentliche Verkehrsmittel wie Straßenbahnen oder Busse waren ihm ein Gräuel, denn das Gefühl, anderen auf wenigen Quadratmetern ohne Rückzugsmöglichkeiten ausgeliefert zu sein, ertrug er nur mit äußerster Anstrengung. Zorn brauchte immer einen Fluchtweg. Selbst eine schnöde Taxifahrt konnte ihm zum Horrortrip werden, dann jedenfalls, wenn der Fahrer ein geselliger Mensch war und Zorn sich gezwungen sah, gegen seinen Willen ein unverfängliches Gespräch über die Straßenverhältnisse oder das Wetter führen zu müssen.
Vom
Basement
zum Präsidium war es nicht weit, er musste nur dem städtischen Boulevard folgen, einer Fußgängerzone, die den Markt mit dem Bahnhof verband. Er hatte die Hände in der Jacke und den Blick zu Boden gerichtet. Bereits nach den ersten Metern war er vom Regen völlig durchgeweicht und bereute seinen Entschluss, doch irgendwie hoffte er immer noch, hier, zwischen Schuhgeschäften, Buchläden und schmuddeligen Drogeriediscountern, auf andere Gedanken zu kommen.
Zorn wartete darauf, dass sich so etwas wie Euphorie oder Genugtuung einstellte. Schließlich war er es gewesen, der diesen ungeheuren Verdacht gegen Sauer gehegt hatte, und jetzt sah alles danach aus, dass er richtig gelegen hatte. Doch alles, was er fühlte, war eine ruhige, verbissene Entschlossenheit.
Himmelherrgott, dachte er und wich einer riesigen Pfütze aus, ich mutiere doch nicht etwa zum Superbullen, muss von jetzt an nur noch meinem Gefühl folgen und löse den Fall durch meine Spürnase? Nein, entschied er dann. Das war nur ein Glückstreffer, ein Zufall, und hatte nichts, aber auch gar nichts mit Intuition zu tun. Und ich werde nicht so blöd sein und glauben, dass es so weitergeht.
Er hatte den spätgotischen Wachturm erreicht, der früher Teil der Stadtmauer gewesen war.
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