zorneskalt: Thriller (German Edition)
höre ihn durch die Bäume schallen. Ich könnte mich in diesem Brüllen verlieren, wie es in meinem Körper widerhallt und meine Nervenenden erreicht, sie elektrisiert. Ich glaube nicht, dass ich mich jemals lebendiger gefühlt habe. Ich könnte ewig so weitermachen.
Und ich verstehe, Clara, alles ist mir jetzt so klar – den Reiz des Schmerzes, wie er köstlich und warm sein kann. Wie er einen mit Kraft erfüllt, die stark und unbesiegbar macht. Wie man sich bis zum Äußersten treiben muss, um zu erkennen, wozu man fähig ist.
Du hast mich schweigend beobachtet. Deine Augen sind vor Überraschung geweitet. Ich strecke meinen gesunden Arm nach dir aus, wir sinken gegeneinander, und unser Lachen und unsere Tränen vermengen sich. Wir reden nicht. Das ist nicht nötig. Wir wissen, dass wir uns durch unsere Tat von allen anderen abheben, dass wir durch eine unwiderstehliche Magnetkraft miteinander verbunden sind.
5
Meine Augen waren noch halb geschlossen, die Lider schwer von Schlaf. Ein Streifen Sonnenlicht wärmte mein Gesicht. In diesem Moment zwischen Träumen und Wachen hätte ich überall sein können. Vielleicht im Urlaub, wo ein Sommerhimmel, ein Pool und ein Tag voller Entdeckungen vor den Fenstern lagen. Dann streckte ich ein Bein aus, fuhr mit dem Fuß über die leere Betthälfte, wo das Laken unberührt straff war, und wusste auf einmal wieder, wo ich war. Es gab keinen Pool, keinen Sommerhimmel. Es gab nur ein Gesicht. Ein Lächeln. Ein Bild von dir.
Ich griff nach meinem Handy. Hoffte verzweifelt, seinen Namen, einen versäumten Anruf, eine SMS zu sehen. Und auch deinen, Clara, natürlich wollte ich deinen Namen und deine Nummer sehen. Aber ich musste vor allem seine Stimme hören, weil er alles wiedergutmachen konnte. Als einziger Mensch überhaupt. Aber das hattest du schon erraten, nicht wahr?
Meine Mailbox war leer.
Ich rief die Anrufliste auf und fand die gesuchte Nummer.
In ihrer Stimme lag nichts mehr von dem Lachen von Freitagabend.
» Wir müssen miteinander reden, Sarah«, sagte ich.
» Ich weiß«, sagte sie auf eine Art, die ahnen ließ, dass sie nicht davon überzeugt war.
» In der Black Lion Street gibt’s einen Coffee Shop an der Ecke, können wir uns dort treffen?«, fragte ich.
» Ich bin um elf dort«, sagte sie und legte auf.
Ich trug die Sachen von gestern, deshalb verließ ich das Hotel früh, um Ersatzkleidung zu kaufen. Seit ich gestern auf dem Polizeirevier angekommen war, hatte ich ständig gefröstelt. Ich brauchte eine zusätzliche Lage Kleidung als Kälteschutz. Als ich auf die Strandpromenade abbog, sah ich die Wintersonne tief am Himmel stehen. Das Meer darunter war so weiß, dass man nicht sagen konnte, wo es in den Himmel überging. Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser. Ich blinzelte und hielt mir schützend eine Hand über die Augen. Nach dem trüben Vortag wirkten der Pier, die Hotels, die Menschen auf der Promenade unter di eser S onne heller und sauberer. Was hatte sich verändert?
Gar nichts hatte sich verändert, Clara. Es war eine optische Illusion. Alles ist eine optische Illusion.
In der Kühltheke lagen Gebäck und Cupcakes mit mehr Glasur als Teig. Ich war hungrig, aber ich wusste, dass es keinen guten Eindruck machen würde, wenn ich mich mit Kuchen vollstopfte. Vielleicht dachte Sarah ähnlich. Wir wärmten uns beide die Hände an dampfenden Kaffeebechern und schüttelten die Köpfe, als die Bedienung fragte, ob wir etwas dazu essen wollten.
Sarah starrte in ihren Kaffee und weigerte sich, mich anzusehen. Ich hatte erwartet, dass wir uns umarmen, uns in unserer Trauer Solidarität beweisen würden. Sarah hatte es sich anders vorgestellt.
» Hast du irgendwas gehört?«, fragte ich. Diesmal hob sie wie mit monumentaler Anstrengung den Kopf und starrte mich an – oder vielmehr durch mich hindurch, denn so fühlte es sich an. Der Glanz in ihrem Haar, wie es an ihrem Kopf klebte, sagte mir, dass eine Haarwäsche fällig war. Ihr Make-up war eine Nuance zu dunkel für ihren Teint. Ich konzentrierte mich auf eine Stelle, wo es nicht richtig verteilt war. Diese Sarah war eine andere Person als die Tequila-und-Gelächter-Sarah von Freitagabend.
» Nein.« Das war ihre ganze Antwort. Unter den Augen hatte sie dunkle Schatten, die selbst dick aufgetragene Abdeckcreme nicht kaschieren konnte.
Ich sah mich um. Der Coffee Shop war fast leer, die Kaffee-und-Croissant-Leute aus den Büros waren schon wieder fort. Der einzige Gast außer uns war eine
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