zorneskalt: Thriller (German Edition)
Dad.«
Darüber habe ich bisher nie nachgedacht, aber als du jetzt davon sprichst, lächle ich. Diese Symmetrie gefällt mir. Zwei Hälften, die sich ergänzen.
Ich habe dich schon früher nach deiner Mom gefragt, aber du antwortest immer ausweichend. Du sagst, dass sie noch lebt und dir manchmal heimlich Briefe schreibt, die du vor deinem Dad geheim halten musst, aber ich weiß nicht recht, ob ich dir glauben soll. Ich frage mich, ob sie tot ist und du’s nur nicht zugeben willst. Vielleicht existiert sie in deinem Kopf, wo sie schön ist und nach Pfannkuchen und Sirup und Blumen riecht. Aber ich weiß, dass ich dir diesbezüglich keine bohrenden Fragen stellen darf. Das Kind eines verschwundenen Elternteils zu sein ist ein heikles Thema.
Trotzdem erzähle ich dir bereitwillig, was ich an grundlegenden Erkenntnissen über meinen Vater habe, und du hörst anscheinend gern zu. Ich berichte, dass sein Name Lawrence McDaid ist (oder war) und er aus Schottland stammt, wo ich geboren bin.
» Dann hast du dein rotes Haar also von ihm?«, fragst du lachend, und ich nicke. Ich erzähle dir, dass er groß ist, obwohl ich aus auf der Hand liegenden Gründen nicht sagen kann, wie groß, und blaue Augen hat. (Niamh hat sie verbittert als dunkelblaue Augen geschildert, die einen von allem überzeugen konnten.)
Nach der Schilderung meiner Mutter sah sie ihn zum letzten Mal eine halbe Stunde vor meiner Geburt, als sie sich vor Wehenschmerzen wand. Diese Enthüllung lässt dich überrascht aufblicken. » Mein Vater wusste offenbar, wie man den richtigen Augenblick wählt«, sage ich und denke daran, was Niamh mir erzählt hat.
Ich war zehn, als sie mich an den Küchentisch gesetzt hat, der von verschütteten Drinks klebrig war. Ich weiß noch gut, wie ich einen Ketchupfleck anstarrte, der sich rötlich dunkelbraun verfärbt hatte. Er war mir jedoch egal. Sie hatte mir ein Glas Apfelsaft hingestellt und eine Tüte Chips aufgerissen, die wir uns teilen sollten. Ich aß sie langsam, weil ich hoffte, dass unser Gespräch umso länger dauern würde, je länger die Chips ausreichten.
» Wir haben in der Schule Stammbäume durchgenommen«, erkläre ich dir. » Ich hatte Äste gezeichnet und auf einer Seite Niamh und ihre Schwestern und ihre Eltern eingetragen. Aber die Seite meines Dads war leer.« Ich weiß noch, wie ich diese Äste anstarrte, wie sie in mir ein vorher nie gekanntes Gefühl der Leere erzeugten, eine Leere, die ich ausfüllen wollte. » Also hat Niamh mir versprochen, mir alles über ihn zu erzählen.«
Ich stelle mir meine Mutter vor, wie sie durch Wolken aus aufsteigendem Zigarettenrauch, der im Licht der Deckenlampe waberte, mit mir sprach. Ich erinnere mich daran, dass dieser Augenblick mir irgendwie magisch erschien, als setzte sie durch ihr Reden diese Geschichten aus meiner Vergangenheit frei, ließe sie mit den Rauchwolken über unseren Köpfen schweben. Ich musste so dringend aufs Klo, dass ich die Beine übereinanderschlug, weil ich fürchtete, wenn ich jetzt ginge, könnte der Zauber verfliegen.
» Er sagte zu Niamh, er wollte Hilfe holen. Aber er ist nur bis zu unserer Nachbarin Betty O’Driscoll gekommen, die gerade ›Take the High Road‹ gesehen hat und von dieser Störung alles andere als begeistert war«, sage ich und weiß, dass mir jetzt deine ungeteilte Aufmerksamkeit sicher ist.
» Und was dann?«, fragst du.
» Er ist in die Nacht hinausgegangen, und Niamh hat ihn nie wiedergesehen.«
Nachdem Niamh Mrs. O’Driscoll mit wüsten Ausdrücken bedacht hatte, presste sie zweimal unter großen Schmerzen, und ich kam schreiend auf die Welt. Sie rief nach Lawrence, er solle kommen und sich seine neugeborene Tochter ansehen, ganz schleimig und rot, und rief immer wieder, bis Mrs. O’Driscoll sich auf die Suche nach ihm machte und ihn nirgends finden konnte. Weil Niamh fürchtete, er sei irgendwo in der eisigen schottischen Winternacht gestrandet, meldete sie ihn als vermisst. Die Polizei suchte ihn neun Tage lang, bis sich erwies, dass Mister McDaid drei Meilen weit entfernt bei Mary Donaghue und ihren drei Kindern lebte, die zufällig ebenfalls von ihm waren.
» Daher sind wir mitten in der Nacht mit dem Flying Scotsman nach England zurückgekommen, als ich zwei Wochen alt war, nur Niamh und ich und ein paar Habseligkeiten im Gepäck.«
» Hast du irgendwelche Fotos von ihm, deinem rothaarigen Dad?«, fragst du.
» Irgendwo gibt’s einen Schuhkarton mit Babyfotos, aber ich weiß nicht,
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