zorneskalt: Thriller (German Edition)
dass ich so früh anrufe, aber ich muss dich was fragen.« In seiner Stimme lag eine Sanftheit, die mir Angst machte. So redete Nick sonst nicht, er dröhnte, er lachte, nicht wie jetzt. Wenn ich Nick sah, stand mir Jonny vor Augen, wie die beiden wie Schuljungen herumalberten, die nie erwachsen geworden waren.
Ich konnte das Telefon nicht richtig festhalten, es lag nicht mehr an meinem Ohr. Aber ich konnte seine Stimme noch immer hören.
» Es gibt bestimmt einen guten Grund dafür«, sagte er auf eine Art, die mich ahnen ließ, er glaube es selbst nicht. » Aber der Vermittler … Wir haben heute Nacht endlich den Vermittler erreicht, und Jonny ist nicht dort. Er ist am Montag nicht angekommen«, sagte er.
» Er muss unterwegs aufgehalten worden sein«, sagte ich, weil ich mich erinnerte, dass er über Kabul nach Kandahar hatte fliegen wollen, um sich dort mit dem Vermittler zu treffen. » Du weißt ja, wie’s dort unten ist«, sagte ich, aber selbst diese Theorie eröffnete zahllose weitere Möglichkeiten, über die ich nicht nachdenken wollte. Ich hörte Nick am Telefon tief Luft holen, und das reichte aus, um mich in Panik geraten zu lassen. » O Gott, ist ihm dort draußen etwas zugestoßen?« Der Albtraum, das Amateurvideo, Jonny von Maskenmännern umringt, die ihn dazu zwingen, in die Kamera zu sprechen, um sein Leben zu betteln. » Verdammt noch mal«, sagte ich, » gibt’s denn dort keine verdammte Security?« Während ich all das sagte, war mir bewusst, dass die Möglichkeit, Jonny könnte von Al-Qaida-Terroristen entführt worden sein, irgendwie besser wäre als die Alternative. Das geheime Einverständnis mit dir. Der Verrat.
» Er ist nicht entführt worden, Rachel«, sagte Nick mit fester Stimme.
» Woher weißt du das so genau?«
Er konnte es nicht wissen. Wie konnte er das so schnell ausschließen?
» Rachel … wir haben heute Nacht die Polizei angerufen, als klar war, dass er nicht dort ist. Sie hat bei der Fluggesellschaft nachgefragt. Jonny ist gar nicht hingeflogen.«
Das Morgengrauen wich einem Tag mit wolkenlos blauem Himmel, vor dem es kein Entrinnen gab. Die zweiflüglige Terrassentür, die wir für viel Geld in der Küche hatten einbauen lassen, ließ Licht hereinfluten. Draußen im Garten glitzerte die Sonne kalt und brillant über das bereifte Gras. Drinnen wurde das Licht von weiß glänzenden Küchenmöbeln und Arbeitsflächen aus Edelstahl zurückgeworfen. Wie perfekt seine Wirkung, wie leer sein Versprechen. Ich fand sein Leuchten irgendwie unangemessen, als protzte ein aufgedonnerter Trauergast auf einem Begräbnis auf.
Ich hatte ein Putztuch in der Hand, wischte damit die Oberflächen, die Tischplatte, die Arbeitsflächen, das Kochfeld. Ab und zu sprühte ich mehr Dettol auf, von dem die Werbung behauptete, es kille hundert Prozent aller bekannten Keime, was gut und schön war – aber was war mit den unbekannten? Mich schauderte bei dem Gedanken daran. Ich putzte alle Oberflächen einmal, zweimal, dreimal. Dann trat ich einen Schritt zurück und begutachtete mein Werk. Den Glanz. Die Sauberkeit. Ich wandte mich meinen Pflanzen zu.
Es waren insgesamt zehn, die in der Wohnung verteilt waren, je nachdem wie viel Sonne oder Halbschatten sie brauchten. Die Friedenslilien im Wohnzimmer ließen die Köpfe hängen, die dünnen, rot geränderten Blätter des Drachenbaums in der Küche waren spröde und an den Spitzen braun verfärbt. Das Usambaraveilchen, mein extravagantes, pflegeintensives Prachtstück, sah wie eine Schauspielerin aus, deren Frisur und Make-up einer Auffrischung bedurften. Nur die Grünlilie, die mir vor vielen Jahren eine Lehrerin geschenkt hatte, wirkte nicht vernachlässigt. Ich goss eine Pflanze nach der anderen und sah zu, wie das Wasser in die Risse der trockenen, durstigen Erde einsickerte. Ich stellte mir vor, wie es ihre Wurzeln erreichte, sie erfrischte, wieder ins Leben zurückbrachte. Dieser Gedanke beschäftigte mich wie jedes Mal: Sie brauchten mich, es hing von mir ab, ob sie lebten oder eingingen. Irgendwie fand ich darin Trost.
Als ich in die Küche zurückkam, überraschte mich das Gurgeln von Kaffee in der Gaggia. Ich konnte mich nicht daran erinnern, die Kaffeemaschine angestellt zu haben. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob Jonny das getan hatte. Und dann fiel mir wieder ein: Er ist nicht da.
Eins, zwei, drei, rechnete ich zurück. Drei Tage, seit Jonny mit einem Kaffee in der Hand hier gestanden, mich zum Abschied geküsst
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