Zu zweit tut das Herz nur halb so weh
Frühe ihre Bilder abgeholt.«
Niemand hatte etwas gemerkt, Gott sei Dank.
In den folgenden Wochen wiederholte ich absichtlich, was sich das
erste Mal zufällig ergeben hatte, immer mit angehaltenem Atem, weil ich
fürchtete, erwischt zu werden. Aber ich konnte diesem seltsamen Drang nicht
widerstehen. Manchmal handelte es sich um Gruppenfotos, dann wieder waren es
nur Aufnahmen von Kindern und Babys. Alle mit einer Hautfarbe, so wie ich mir
die von Roberts und meiner Kleinen vorstellte. Und alle wanderten in das
hinterste Eck meiner Kommode.
An meinem freien Tag gewöhnte ich mir an, Spaziergänge in Cincy
zu machen und über die Märkte zu schlendern, auf denen Metzger und
Gemüsehändler ihre Waren feilboten.
Eines kalten Winternachmittags überschritt ich die unsichtbare Linie
zwischen WeiÃen und Schwarzen auf einem Markt, auf dem diese Grenze nicht so
genau beachtet wurde wie anderswo. Ich war nicht die einzige WeiÃe, genauso
wenig wie die junge Frau, die neben mir stand, die einzige Schwarze war. Als
unsere Blicke sich trafen, hielten wir beide den Atem an.
Nell.
Ihre Miene versteinerte sich, aber als ich nicht wegsah, sie hilflos
anstarrte, trat ein liebevoller Glanz in ihre Augen. Sie erwiderte meinen
vorsichtigen Gruà dennoch kühl und nickte kurz. »Miss Isabelle.«
»Nell, du musst mich nicht mehr so nennen. Ich arbeite und wohne in
einem gemieteten Zimmer. Die Förmlichkeit war mir sowieso immer unangenehm.«
»Na schön«, sagte sie. »Isabelle.«
»Ich könnte es verstehen, wenn du mich verachtest. Ich habe dein
Leben, das deiner Mutter und das von Robert ruiniert.« Seinen Namen auszusprechen
war schmerzhaft.
»Wir kommen zurecht, danke.«
Da dies meine einzige Chance war, mehr über sie und ihre Familie zu
erfahren, ergriff ich ihre linke Hand, um den silbernen Ring daran zu
begutachten.
»Du bist verheiratet?«
Sie nickte.
»Bruder James?«
Abermals nickte sie.
»Du bist bestimmt sehr glücklich.«
Sie zog ihre Hand weg, doch ein Zucken um die Mundwinkel verriet
mir, dass ich recht hatte. Sie und Bruder James waren füreinander bestimmt.
»Ist schon ein Kind unterwegs?«
Nell legte eine Hand auf ihren Bauch, der kaum dicker war als
meiner. Sie wirkte erstaunt, dass ich das erraten hatte.
»Gratuliere. Freut mich für dich, Nell. Und ⦠deine Mutter?«
»Momma gehtâs gut. Hat eine Stelle hier in der Stadt gefunden. Sie
behandeln sie anständig, aber sie muss jeden Tag ziemlich weit fahren.«
Obwohl Nells Stimme vorwurfsvoll klang, war ich glücklich, dass Cora
überhaupt Arbeit gefunden hatte.
Ich wusste, dass Nell Robert von sich aus nicht erwähnen würde.
Trotz meiner echt empfundenen Sorge um ihre Familie war er es, über den ich
etwas erfahren wollte. Aber nach einem Moment qualvollen Schweigens traf ich
eine Entscheidung. Die einzige, die ich guten Gewissens treffen konnte. Ich
dachte an die Warnung meines Vaters, an meine Schuld, in der ich Nells Familie
gegenüber stand. Ich fragte nicht nach Robert.
»Schön, dich zu sehen, Nell. Freut mich, dass es dir und deiner
Mutter gut geht. Und es tut mir leid. Alles.« Ich wandte mich ab, um meine
Tränen zu verbergen.
Sie legte die Hand auf meinen Ellbogen. »Robert will zum Militär,
sobald er mit der Schule in Frankfort fertig ist. Das dauert vielleicht nicht
mal mehr ein Jahr. Sie führen Schnellkurse für Rekruten durch.«
Ich erstarrte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Der Krieg in Europa
und die Gerüchte, dass die Staaten bald eintreten würden, hatten zu einer
Einberufung in Friedenszeiten geführt. Immer mehr junge Männer meldeten sich
freiwillig. Doch ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ein junger Schwarzer
zum Militär gehen könnte. Was würde er dort tun? Wie würde man ihn behandeln?
Würde er einen Krieg überleben?
»Er hofft, als Arzt dienen zu können, macht aber auch alles andere â
man darf nicht wählerisch sein.« Nell legte den Kopf ein wenig schräg.
»Das ⦠das ist ja wundervoll.« Ich brachte die Worte, alles Lügen,
kaum über die Lippen. »Wahrscheinlich winkt ihm eine ganze Truppe Mädchen zum
Abschied nach. Vielleicht hat er ja sogar eine Freundin, die zu Hause auf ihn
wartet.« Ich konnte Nell nicht direkt danach fragen, doch mit
zusammengeschnürter Kehle wartete ich auf ihre Antwort. Dachte
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