zuadraht
Menschheit mehr Menschen getötet als sie. Soldaten, die besonders viele andere Soldaten getötet haben, nennt man Helden. Sie werden von der Gesellschaft mit Orden ausgezeichnet und hoch geachtet.
Es gibt also zwei Arten des Menschentötens. Die legale und damit heldenhafte und die illegale, die verwerfliche, für die es drakonische Strafen setzt. Es ist die Gesellschaft, die entscheidet, in welche Kategorie eine Menschentötung fällt. Die Gesellschaft sind wir alle, und für die anderen gehöre natürlich auch ich dazu. Sie wissen nicht, dass ich mir die Freiheit genommen habe, meine Art des Menschentötens selbst zu bewerten. Jeder, der von mir hingerichtet wurde und hingerichtet wird, hat es meiner ganz persönlichen Einschätzung nach verdient, auf diese ultimative Art bestraft zu werden. Mein alter Herr würde sagen: ,Ich habe mich für die Höchststrafe entschieden!‘ Natürlich weiß ich, dass die Gesellschaft: mit meiner Bewertung nicht einverstanden ist und mich für den Rest meines Lebens wegsperren wird, wenn sie mich erwischt. Aber sie wird mich nicht kriegen.
Im Keller, Montagnacht
Der Vorhang geht auf, das Stück beginnt. Und du hast das Privileg, in der ersten Reihe sitzen zu dürfen. Noch ein Schluck aus der Flasche? Natürlich, tut ja gut, die Hände zittern nicht mehr, die Gedanken werden klarer. Der Schnaps vertreibt das Flattern aus dem Kopf, stimmt doch, oder?
„Warum weißt du das so genau? Säufst du selber? Bitte, da ist die Bottle, sie gehört dir. Saug daran, gib dir die Kraft. Vielleicht macht dich der Wodka so locker, dass du endlich diese verdammte Maske abnimmst. Warum verbirgst du dich vor mir? Du willst mich ohnehin umbringen, ich kann dich also nicht verraten. Oder bedeutet dein Mummenschanz, dass du mich doch freilässt?“
Geduld. Carpe diem. Es wird ein faszinierender Abend, ein magischer Abend, der Abend der Erkenntnis. Am Ende wirst du klar sehen und der Wahrheit begegnen. Die Antwort auf alle Fragen haben. Zuerst muss ich dich aber noch bitten, in deinem Sessel Platz zu nehmen. So ist‘s gut. Es ist ein fesselndes Stück, dem du beiwohnen darfst. Deshalb bitte ich dich auch, die Arme hinter dir um die Sessellehne zu legen, damit ich sie zusammenbinden kann. Nein, dir geschieht nichts. Ich schütze dich nur vor dir selbst. Die Aufregung könnte dich kopflos machen, zu unüberlegten Dummheiten verleiten. In diesem Fall müsste ich dir Schmerzen bereiten. Das wollen wir doch nicht. Richtig? Jetzt noch etwas Klebeband um die Beine, so ist‘s gut. Du liebst doch das Theater? Klar, das weiß ich. Der Herr Professor besitzt ein Abo im Schauspielhaus. Bei jeder Premiere dabei. Und dann ab ins Tokio. Kultur erduldet man zwar, weil man ja zu den Intellektuellen dieser Stadt zählt, aber sie ermüdet auch, und der strapazierte Geist schreit danach nach Stärkung. So ist es doch? Angesichts der besonders fesselnden Umstände muss dieses Ensemble heute leider auf ihren geklatschten Applaus verzichten, Herr Professor, aber wir geben uns auch mit enthusiastischen Bravorufen zufrieden.
„Bravo, bravo, großartig . . . alles, was du willst. Bravissimo, Hallelujah. Du bist der Größte, der Beste, der Allwissende, der Allmächtige. Du kennst die Wahrheit, aber bitte, bitte, bitte . . . bring dieses Schauspiel endlich zu seinem Ende. Sag es mir, sag es mir, verdammt noch mal, sag es mir! Warum? Ich will endlich wissen, warum!“
Eigentlich wollte ich dir jetzt ein Ohr abschneiden. Welches war es bei Van Gogh? Das rechte, ich glaube, es war das rechte. Oder doch das andere? Weißt du, welches Ohr sich Van Gogh abgeschnitten hat?
„Oh Gott, hast du mich deshalb gefesselt? Damit ich mich nicht wehren kann, wenn du mir ein Ohr abschneidest? Warum? Warum willst du mir ein Ohr abschneiden? Ich gehorche, wenn es das ist, was du willst. Was soll ich tun?“
Van Gogh, weißt du, welches Ohr es war?
„Nein, verdammt noch mal, nein. Ich habe keine Ahnung, welches Ohr sich der Van Gogh abgeschnitten hat. Du hast mir schon den Finger genommen, reicht das nicht? Lass mir das Ohr. Ich flehe dich an. Ich könnte es nicht ertragen, nein, ich könnte es nicht ertragen. Wahnsinn, wann ist dieser Wahnsinn endlich zu Ende?“
Wenn er Rechtshänder war, und ich glaube, das war er, dann war es wahrscheinlich das linke Ohr. Ja, er hat es mit der Linken vom Kopf weggezogen und mit der Rechten die Rasierklinge geführt. Das ist Geschichte, mein Freund, Kunstgeschichte. Der Mann hat für die Ewigkeit
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