Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
zuadraht

zuadraht

Titel: zuadraht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Kopacka
Vom Netzwerk:
unendliche Arbeitstage lang. Tante Grete litt an einer Krankheit, deren Namen ich vergessen habe. Manchmal hatte sie Anfälle, und ich musste ihr rasch die Tabletten reichen. Mit einem Glas Wasser. Einmal habe ich es nicht getan und zugesehen, wie ihr Körper zu zucken begonnen hat. Aber darüber habe ich nie nachgedacht, ich will es auch jetzt nicht tun.
    Ich rieche das Kepler-Gymnasium. Das Miese, das Schlechte, die Qualen. Bildung, Weisheit und Wissen sind nur dann wirklich wertvoll, wenn es eine Logik gibt, die sie steuert. Die Schule tut es nicht. Dafür muss das eigene Gehirn aktiviert werden. Mein Gehirn hat leider viel zu lange dafür gebraucht.
    Komm, Geier! Ich warte schon sieben Minuten auf dich. Du mieses, halbgebildetes Schwein. Hast nur mit Mühe dein eigenes Studium geschafft und danach geglaubt, du seiest ein römischer Gott. Latein? Keiner braucht den alten Dreck. Zum Glück hat diese Schülerquälerei heutzutage an Bedeutung verloren, zu meiner und zur Zeit vom Hanser war‘s noch ein so genannter Hauptgegenstand. Latein gehörte zur vollkommenen Bildung. So ein Scheiß. Und dieser Scheiß hat dem alten Geier jene Macht gegeben, die er jahrzehntelang so genüsslich ausgekostet hat. Ende, Herr Professor!
    Ich sehe eine bedauernswerte Kreatur. Lorenz Geier. Kriecht daher, nichts von damals. Kein Professor, keine Autorität. Ein Wurm. Wahrscheinlich sind sie alle so. Die großen Schülerquäler von damals. Er riecht nach altem Mann. Säuerlich.
    Weinberger, lüge ich, und er zeigt mir eine gelbliche Zahnprothese. Er kramt nach dem Schlüsselbund, ich warte, er findet ihn und öffnet die Türe. „Dass Sie extra aus Deutschland hergekommen sind, freut mich, nein: es ehrt uns alle“, sagt er. Ich sehe ihn kaum, weil der Korridor dunkel ist, aber ich rieche ihn – den Keplermief. Er hat mein Gesicht noch nicht wirklich gesehen, aber das scheint ihm auch egal zu sein. Mir auch. Ich werde ihn töten. Und alles wird wieder einmal exakt nach Plan verlaufen.
    Dreißig Jahre lang in Berlin, sage ich, „Versicherungsmathematiker, was ist das?“ fragt er. Ich lächle, er hat keine Ahnung, wer ich tatsächlich bin. Das Klassenzimmer ist ein Klassenzimmer. Seit damals hat sich kaum etwas verändert. Auch der Geruch ist gleich geblieben. Hat zum Glück nichts mit Latein zu tun, sage ich, er schüttelt den Kopf und gibt mir den präpotenten Blick, der mich damals schon zur Weißglut gebracht hat. „Alles hat mit Latein zu tun, das habe ich euch doch beizubringen versucht,“ sagt er. „Latein ist die Grundlage für das logische Denken, und das logische Denken ist die Grundlage der Vernunft. Es ist die Vernunft, die den Menschen vom Tier unterscheidet. Demnach – und das habe ich euch immer einzuhämmern versucht – ist Latein die Grundlage der menschlichen Zivilisation!“
    Der Geier war immer schon ein Arschloch, ein Menschenquäler. Jetzt steht er vor mir. Ein kleiner, mickriger Mann mit einem kleinen, mickrigen Lächeln. Und jetzt habe ich die Macht. Ich bin für ihn jetzt ein Jemand. Kein wehrloser Schüler mehr, sondern ein bedeutender Versicherungsmathematiker aus Deutschland. Was immer das ist. Vor einem Jemand kriechen sie, die Herren Pädagogen. Sind sie schon immer gekrochen. Geier kriecht vor mir, und ich könnte es auskosten, aber er widert mich an. Ich will die Sache abschließen, möglichst rasch. Durch seine Gegenwart fühle ich mich beschmutzt, befleckt, beschleimt, bekleckert. „Um diese Zeit wird hier zwar nicht mehr geheizt“, sagt er mit einem Blick auf meine behandschuhten Hände, „aber so kalt ist es in den Klassenräumen auch wieder nicht. Wollen Sie nicht ablegen?“ Nein, danke, sage ich und bemühe mich höflich zu bleiben, es wird ja nicht lange dauern.
    Er hebt erstaunt die Augenbrauen, verzieht die dürren Lippen zu einem missbilligenden Lächeln, stellt die abgegriffene Lederaktentasche auf den Lehrertisch und kramt mit seinen Händen, die mich plötzlich an die Klauen eines Raubvogels erinnern, ein altes, abgegriffenes graues Buch heraus. Mein Gott, wie hasse ich ihn, ich kann kaum noch warten. „Euer altes Klassenbuch“, fistelt er mit vor Aufregung veränderter Stimme. Er schlägt das Buch auf, legt es in die Linke und trommelt mit dem Zeigefinger der Rechten auf das vergilbte Papier. „Da ist alles von euch drinnen, alle Namen, alle Schandtaten!“
    Ich muss es tun, und ich muss es jetzt tun. Ich hebe den Plastiksack hoch und greife nach dem Klebeband. „Wie haben sie

Weitere Kostenlose Bücher