Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Augen und mit einem entschlossenen Zug um den Mund. “Weißt du, Mutti, was er mir angetan hat? Weißt du, daß ich seit meinem sechsten Lebensjahr keinen ruhigen Tag in diesem Haus hatte? Keine Nacht, in der die Angst mich ruhig schlafen ließ?” — “Ich will das nicht hören.” Mutti hielt sich die Ohren zu. “Ich will das nicht hören. Wenn ich das glauben würde, könnte ich mich ja gleich aufhängen.”
Da war er wieder, dieser Satz. Dann könnte ich mich ja gleich aufhängen. “Damit hast du mich zum Schweigen verurteilt.” Gaby wurde böse, packte Mutti am Arm. “Sieh mich an, sie mich um Himmels willen endlich an. Ich existiere, ich lebe hier neben dir. Wie sollte ich denn reden, wenn ich deinen Tod auf dem Gewissen haben sollte? Du hast mich zum Schweigen verurteilt. Du hast mir die Lippen versiegelt.” Mutti wandte sich ab, sah zur Seite. “Ja”, Gaby erhob ihre Stimme noch mehr. “Auch das hast du immer getan. Zur Seite gesehen. Es ist doch unmöglich, daß du das alles nicht gesehen hast. Nicht meine Angst, nicht meine Not, nicht meine Verzweiflung. Du mußt es gesehen haben. Warum, warum, Mutti, hast du mich so allein gelassen?” Gaby begann zu weinen, aber sie hörte nicht auf zu reden, sie mußte weiterreden. Mutti war noch nicht so alt wie in dem anderen Traum, als sie auch mit ihr hatte reden wollen. Sie war beinahe in ihrem eigenen Alter. Man konnte sie noch zwingen zuzuhören. Man sollte alle Mütter zwingen zuzuhören. “Ich habe dich geliebt. Ich wollte auch von dir geliebt werden. Alles habe ich dafür getan. Und du hast dich von mir gewandt. Du hast mich allein gelassen.” Sie fühlte die Tränen über ihre Wangen rinnen, aber sie wischte sie nicht fort. “Er hat mich zu so vielen Sachen gezwungen. Scheußlichen Sachen. Er hat mir so weh getan. Und ich war noch so klein.” Gaby fühlte wieder das Mitleid mit dem Kind. Es tat ihr so gut, Mitleid zu fühlen und keine Verachtung mehr. Sie konnte mitleiden. “Wie konntest du mich ihm überlassen, Mutti? Wie konntest du sagen: wenn er jemand liebt, dann doch sein Zuckerpüppchen? Wie konntest du mich ihm finanziell ausliefern? Weißt du, daß Du mich prostituiert hast? Daß ich mich für ein Paar Turnschuhe verkaufen mußte? Für eine Klassenreise? Wo, Mutti, wo war dein Gefühl? Warum hast du mich nicht schützend in die Arme genommen?”
Und jetzt sah Mutti sie an. Und Gaby sah sie an. Eine früh gealterte Frau: Stumpfe, graue Haare, müde Augen, blutleere Lippen. Fahlgelb war ihre Haut vom vielen Rauchen, und ihre Schultern zog sie hoch, als fröre sie. Sie sagte nichts. Aber ihre Augen bettelten um Verständnis.
Wie sollte ich dich schützen? Ich konnte mich auch nicht vor ihm schützen. Was wäre aus uns geworden, wenn ich nicht geschwiegen hätte? Man hätte mich mit Steinen beworfen. Man hätte gesagt, die Frau ist schuldig. Kein Mann tut so etwas, wenn es in der Ehe stimmt. Man hätte mit Fingern auf uns gewiesen. Ich konnte mit der Wahrheit nicht leben. Ich schuf mir meine eigene. Nur so konnte ich weiterleben. Und dann — an wen hätte ich mich wenden sollen? Ich war genau so allein wie du. Ich wollte die Familie beieinander halten. Ich hatte Angst. Und dann war da auch noch Mark... Ich konnte nichts tun.
Und obwohl Mutti kein Wort sagte, verstand Gaby sie. Sie fühlte die Ohnmacht ihrer Mutter. Die Ohnmacht der Frauen. Die Macht der Männer. Und sie fühlte außer dem Mitleid für das Kind auch Mitleid für Mutti. Auch sie war ein Opfer. Und doch mußte sie ihr noch etwas sagen. Es war die Wahrheit.
“Was er mir auch angetan hat, Mutti, es ist nichts so schlimm und so schmerzhaft gewesen wie das, was du getan hast: nämlich nichts! Das war das schlimmste. Daß du nichts getan hast.”
Gaby stand gegen ihre eigene Biedermeier-Kommode gelehnt und plauderte angeregt mit Dagmar und ihrem Mann. Ja, die Feier war wieder ein voller Erfolg. Jeder amüsierte sich prächtig. Und die neuen Rezepte, die Dagmar ihr gegeben hatte, waren auch gut angekommen. Der Selleriesalat mit den grobgehackten Walnüssen hatte viele Komplimente gebracht. Und die Datteln, gefüllt mit einer feinen Käsecreme, wirklich köstlich. Doch etwas Schönes, so eine Geburtstagsfeier im Kreise der Freunde und Bekannten. Leider, als Geburtstagskind selbst hatte man nicht soviel davon. Aber sie sah ja strahlend aus. Und was für eine schöne Goldkette sie von Hubert bekommen hatte. Wirklich, zu beneiden! Gaby nickte, lächelte und ließ Ursel und
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