Zugriff
des Vormittags immer mehr Journalisten ein, die gegen Mittag im Hinterhof des Wohnkomplexes vom Pressesprecher der Polizei über die Lage informiert wurden. Plötzlich ein Schuss, der alle zusammenzucken ließ, gefolgt von vier weiteren. Panik brach aus. Die Zeitungsleute sprangen wie eine wild gewordene Schafherde auseinander und suchten Schutz hinter Hecken und Bäumen. Schon meldete ein Außenposten, er habe aus dem Badezimmer Mündungsfeuer aufblitzen sehen. Wir schauten uns verwundert an. Dort gab es doch bloß einen schmalen Lüftungsschlitz am Deckenrand. Um gezielt zu schießen, reichte das nicht. Wohl aber, um wahllos fünfmal in Richtung der Journalisten abzudrücken. Das hatten wir nicht ins Kalkül gezogen und waren gottsfroh, dass niemand getroffen worden war.
Durch Schaden wird man klug, und als meine Leute von der Außensicherung auch noch eine Patronenhülse Kaliber 9 x 19 mm fanden, waren wir noch ein bisschen klüger. Ludwig H. besaß eine halb automatische Waffe und nicht bloß eine Attrappe oder Schreckschusspistole. Damit entstand für die Beurteilung der Lage eine neue Ausgangsbasis. Der Polizeiführer war hin- und hergerissen, schwankte zwischen Abwarten und Beenden, unser Kommandoführer drängte auf die Freigabe des finalen Rettungsschusses, während die Psychologen nach wie vor auf den Zermürbungseffekt setzten. Sie gingen immer noch davon aus, den Geiselnehmer zur Aufgabe überreden zu können.
Nach langen Beratungsgesprächen, bei denen niemand leichtfertig argumentierte, entschied sich der Einsatzleiter schließlich für die Freigabe des Rettungsschusses. Wie immer in solchen Fällen unter der Bedingung, dass die Geisel nicht zusätzlich gefährdet wurde. Die Gesamtumstände sprachen für diese Entscheidung. Seit beinahe 20 Stunden bedrohte H. nunmehr die Frau, schien zu allem entschlossen und forderte überdies Geld und ein Fluchtfahrzeug. Schoss in der Wohnung herum und ballerte willkürlich nach draußen, gefährdete also mit voller Absicht Unbeteiligte. Was musste noch alles passieren, bevor man sich zu einer Beendigung entschloss? Notfalls eben durch einen finalen Rettungsschuss.
Die Stunde der Präzisionsschützen war gekommen, aber ohne freies Schussfeld ging nichts. Die Sicht auf den Täter blieb schemenhaft, offenbar hielt er sich bewusst vom Fenster fern und schob gerne die Geisel vor sich her. Völlig unmöglich, auf ihn zu schießen. Ebenso aussichtslos war es, die Wohnungstür aufzubrechen. Schließlich ließ sich nicht ausschließen, dass er dort wirklich eine Sprengladung angebracht hatte. Es wäre das Ende für Angelika N. und die Zugriffskräfte. Mit anderen Worten: Uns waren die Hände gebunden.
Und diese Situation wollte und wollte sich nicht ändern. Es war ein zermürbendes Warten. Viele unserer Leute waren bereits an die 17 Stunden vor Ort, und die Tatsache, dass Ludwig H. seit Stunden nicht mehr auf Anrufe reagierte, hob die Stimmung nicht gerade. Alle fühlten sich deprimiert und ausgelaugt, sehnten endlich die Aktion, den Befreiungsschlag herbei.
Nichts geschah. Stattdessen traf gegen 17 Uhr die Ablösung vom SEK Nordbayern ein, und uns blieb nichts anderes übrig, als das Feld zu räumen und ausgeruhten Männern Platz zu machen. Allerdings nicht Knall auf Fall, sondern die Neuformierung dauerte ihre Zeit. Schließlich mussten die Nürnberger Kollegen eingewiesen werden. Gegen 20 Uhr durften wir endlich nach Hause. Einerseits erleichtert, weil die Batterien wirklich leer waren, andererseits mit Bedauern, weil man die Sache gerne selbst zum Abschluss gebracht hätte. Allerdings rechneten wir bereits damit, am nächsten Tag gegen Mittag erneut den Einsatz zu übernehmen. Diese Geiselnahme entwickelte sich wie es schien zu einem wirklichen Marathon.
Tatsächlich passierte zunächst wenig, zumindest nichts Entscheidendes. Während der Nacht versuchte man H. durch Störgeräusche und ständiges Telefonklingeln weichzukochen, doch am frühen Morgen wirkte er erstaunlich frisch, verlangte Frühstück und Getränke.
Der Zeitpunkt der Ablösung rückte näher. High Noon. Ludwig H. forderte weitere Getränke. Der Überbringer wurde angewiesen, die heruntergelassene Tasche so langsam wie möglich zu füllen. Vielleicht ließ er sich dadurch provozieren und zeigte sich am Fenster. Und im Zielfernrohr der Präzisionsschützen. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich das Prozedere. Mit den fränkischen Kollegen war vereinbart, dass wir anschließend übernehmen sollten.
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