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Wie immer beugte sich die Geisel leicht aus dem Fenster und wartete, während unten umständlich und langsam die Tasche bepackt wurde. Dann das Zeichen zum Hochziehen. Angelika N. zog die Tasche nach oben, hob sie über das Fensterbrett, alles wie gehabt. Und dann – uns stockte der Atem – bückte sie sich plötzlich und gab den Blick auf Ludwig H. frei. Nur ein paar Sekunden, doch einer der Präzisionsschützen reagierte blitzschnell. Er hatte den Geiselnehmer bereits zuvor in vagen Umrissen durch sein Zielfernrohr ausgemacht und mit dem Fadenkreuz markiert. Das Projektil durchschlug mit einer Geschwindigkeit von etwa 800 Metern in der Sekunde den Kopf des Mannes. Wie ein Gummiball wurde H. nach hinten geschleudert und blieb in der Zimmerecke tödlich getroffen liegen, umgeben von Abfall und schmutzigem Geschirr.
Unmittelbar darauf sprangen die Einsatzkräfte aus dem Apartment im ersten Stock auf das Vordach des Hauseingangs, drangen durch das geöffnete Fenster ins Wohnzimmer ein. Andere kamen über Leitern, führten endlich die Geisel nach draußen, nachdem sich die Sprengsätze an der Wohnungstür als Bluff erwiesen hatten. Ein Psychologe kümmerte sich sogleich um die von den Strapazen sichtlich gezeichnete junge Frau, stülpte ihr seinen Pullover über den Kopf, um sie vor dem Blitzlichtgewitter der Fotografen zu schützen. Die bisher längste Geiselnahme in Bayern war zu Ende.
Das Motiv des Täters konnte nie eindeutig geklärt werden. Der Mann war arbeitslos und überdies kein unbeschriebenes Blatt, vorbestraft wegen Raubes und Körperverletzung. Offenbar glaubte er nichts mehr zu verlieren zu haben und hoffte auf einen großen Coup, um sich aus seiner Misere zu befreien. Aber ein richtiger Profigangster war er eben nicht.
Außerdem schien es uns im Nachhinein fast, als habe er seinen Tod regelrecht herausgefordert. Keine leichte Sache für den Polizeiführer, der den finalen Rettungsschuss freigab, und ebenfalls nicht für den Schützen. Beide quälten sich noch lange mit der Frage herum, ob ihre Entscheidung richtig oder angemessen gewesen sei. Doch, das war sie, denn immerhin retteten sie das Leben der Geisel. Trotzdem konnte ich ihre Selbstzweifel nur zu gut verstehen, und verglichen damit empfand ich den ausgefallenen Kurzurlaub in Südtirol als eher untergeordnetes Problem.
Es klingt verrückt und scheint mit den Aufgaben eines Spezialeinsatzkommandos rein gar nichts zu tun zu haben. Hat es aber, so widersinnig es sich auch anhören mag. Nur erschließt sich des Rätsels Lösung erst auf den zweiten Blick und hängt zusammen mit einer besonderen Spezialität unserer Einheit: Einsätze vom Hubschrauber aus.
Es war Sommer und die Hitze schier unerträglich. Ich saß bei weit geöffnetem Fenster in meinem Büro, denn Klimaanlagen gab es in dem alten Gebäude nicht, und stellte zusätzlich einen Ventilator an. Jetzt irgendwo draußen an einem See liegen! Alles war besser als das hier. Als hätte ein guter Geist meine stumme Bitte erhört, klingelte das Telefon.
Einsatz!
» Könnt ihr euch vorstellen, eine tote Krähe von einer Kirchturmspitze herunterzuholen?«, hörte ich den Kollegen von der Einsatzzentrale fragen. Machte der Witze, dachte ich unwillkürlich und verstand zunächst nicht, warum wir gefragt wurden. » Wie bitte? Was sollen denn wir da?«
» Hör zu«, meinte der Xaver, ein gemütlicher Urbayer. » Es ist eine verrückte Geschichte. Ein Pfarrer hat folgendes Problem: Eine Krähe hat sich im Kreuz seiner Kirche verfangen, und bei jedem Windstoß blähen sich die Flügel. Bigotte Kirchgänger sprechen schon vom Teufel, der ein Zeichen gibt. Natürlich hat er sich zuerst an die Berufsfeuerwehr gewandt, doch die sehen keine Chance, an den Vogel heranzukommen. Der Kirchturm ist viel zu spitz. Aber denen ist eingefallen, dass eure Leute an einer nachgebauten Hubschrauberplattform in einer Feuerwache das Abseilen üben, und sie haben dem Pfarrer diesen Tipp gegeben. Und der wurde nun von der Vermittlung an mich weitergeleitet. Also, was ist? Macht ihr das? Dürfte für euch eigentlich kein Problem sein.«
Ich überlegte. Schon richtig, denn das Abseilen aus dem Hubschrauber beherrschten wir aus dem Effeff. Mit einer Kirchturmspitze als Landefläche hatten wir allerdings keine Erfahrung. Bestimmt wären unsere Vorgesetzten im Innenministerium nicht erfreut, wenn sich jemand bei einem obskuren Einsatz verletzte, für den wir nicht wirklich zuständig waren. » Was sagt denn das
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