Zum Glück Pauline - Roman
rauschendes Fest (es war zugleich die Feier zu seinem 60. Geburtstag). Angesichts einer solchen Beliebtheit hatte ich den angstvollen Gedanken: Hoffentlich kommen auch so viele Leute, wenn ich mal sechzig bin. Die Zukunft schien vor ihm zu liegen wie ein fast nicht einzulösendes Versprechen. Und dann wurde er krank. Einfach so, wenige Monate nach seiner Pensionierung. Er hatte kaum Zeit gehabt, mal so richtig durchzuatmen, schon rauschte der grausame Befund wie ein Fallbeil nieder: Krebs. Die ganze Familie war am Boden zerstört. Meine Frau wachte nachts auf: «Das darf einfach nicht sein, das ist so ungerecht», schluchzte sie immer wieder. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber es war nicht leicht. Die Ärzte hatten wenig Hoffnung.Die Geschichte erinnerte mich an François Mitterand, der ein Leben lang erbittert gekämpft hatte, um Staatspräsident zu werden, und als er dann endlich gewählt wurde, erfuhr er, dass er Krebs hatte. Man gab ihm höchstens noch sechs Monate, mehr nicht. Er würde in die Geschichte eingehen als der Präsident mit der kürzesten Amtszeit. So ging das nun aber nicht, nicht mit Mitterand. Er ließ sich nicht unterkriegen, kämpfte verbissen und wendete das Schicksal ab. Er stieß die Krankheit von sich. 1988 wurde er sogar für eine zweite Amtszeit gewählt. Als diese 1995 endete, starb er wenige Monate darauf. Während seiner Präsidentschaft abzutreten, wäre für ihn nie infrage gekommen. Das erzählte ich meiner Frau, weil ich sie aufmuntern wollte. Ihr Vater musste sein Buch schreiben, das war seine Mission, er konnte sich jetzt nicht aus dem Staub machen. Er war so stark, dass er die Krankheit besiegen würde. Davon war ich überzeugt.
Und ich sollte recht behalten. Nach monatelanger Chemotherapie, einer Zeit der Angst und des Schreckens, war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Diese Erfahrung veränderte ihn, er wirkte wie verklärt, was ihn noch beeindruckender erscheinen ließ. Nur seine Lebensfreude war nicht zurückgekehrt aus diesem Krieg. Er, der früher die Aufmerksamkeit aller für sich beansprucht hatte, saß nun in geistesabwesender Selbstvergessenheit bei den Mahlzeiten und sagte minutenlang kein Wort. Doch allmählich kam er wieder zu Kräften. Und die Freude darüber war riesig. Meine Frau drückte ihren Vater in die Arme, sie wolltees ausnutzen, solange es ihn noch gab. Als wir ein paar Monate später verblüfft sahen, wie sehr er das Leben genoss, hätte man fast vergessen können, was er durchgemacht hatte.
Das war wohl der Grund, weshalb ich meiner Frau nichts von der Kernspintomographie erzählen wollte. Bis jetzt hatte ich keine offiziell anerkannte Krankheit. Und wenn ich eine gehabt hätte, hätte ich sie nicht damit belastet. Auf gar keinen Fall wollte ich ihr irgendwelche Sorgen bereiten. Als sie also nach Hause kam und mich fragte, wie es meinem Rücken ging, sagte ich: «Ganz gut.» Ich weiß noch, ich setzte sogar hinzu: «Ist besser geworden.»
* Sie hieß Nina. Was wohl aus ihr geworden ist? Juristin, Floristin, Galeristin?
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Intensität der Schmerzen: 5
Gemütslage: kämpferisch
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In Wirklichkeit ging es mir überhaupt nicht besser. Die ganze Nacht ging die Angst in mir um. Ihre Schatten machten mir Gänsehaut. Dass ich sterben könnte, daran hatte ich noch gar nicht richtig gedacht. Ich war mir bisher immer sicher gewesen, dass ich alt werden würde. Ich hatte mich sogar schon so oft alt gefühlt, dass ich das Alter, in dem sich mein körperlicher Zustand endlich mit meinem geistigen im Einklang befinden würde, herbeisehnte. Ich war wie dazu geboren, alt zu sein, und nichts konnte mich daran hindern, mein Schicksal zu erfüllen. Doch nun war die Lage eine andere. Zum ersten Mal erkannte ich, dass alles plötzlich zu Ende sein könnte.
«Schläfst du gar nicht?», seufzte meine Frau.
«Doch, doch … ich schlafe», flüsterte ich ihr zu, auch wenn es vielleicht nicht allzu logisch klang.
Ja, ich hatte Angst zu sterben. Mein Leben kam mir so unbedeutend vor. Was hatte ich wirklich geleistet? Meine Gedanken drehten sich im Kreis, ohne auf irgendetwas zu stoßen, das von Belang gewesen wäre. Meine Kinder freilich. Aber was hatten wir für ein Verhältnis zueinander? Mein Sohn war in New York und wir redeten alle drei Tage über Skype miteinander. Wir unterhielten eine virtuelle Beziehung. Ich sah ihn nur noch auf dem Bildschirm, ihn, denich so lange in meinen Armen gehalten hatte. Ich erinnerte mich, wie wir zusammen Fußball
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