Zum Nachtisch wilde Früchte
– so gut wir es können – lindern sollten. Eigentlich sollte man den normal Empfindenden viel öfter diese Kranken zeigen, damit sie glücklich sind, so normal zu sein, und sich nicht immer wieder bemühen, durch Alkohol oder Rauschgift in die Gemeinschaft dieser Irren zu kommen!« Dr. Laurenz sah auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt eine gute Zeit zum Rundgang. Die Kranken haben Mittag gegessen, sind satt und zufrieden …«
»Wie bei Raubtieren …«, sagte Jutta leise.
»Fast so.« Dr. Laurenz sah auf einen Belegplan, der an der Wand hing. »Wir haben zur Zeit 2.340 Kranke hier. Sparen wir die Paralytiker aus … diesen Anblick möchte ich Ihnen ersparen, Fräulein Boltenstern. Aber zwei Fälle von Schizophrenie muß ich Ihnen zeigen, die – wenn man so respektlos sagen darf – unsere ›Glanznummern‹ sind. Gehen wir also zu Block I.«
Nach einem Spaziergang durch Rosengärten und über gepflegte, sauber geharkte Wege – die Gartenarbeit verrichteten die leichten Fälle, wie Dr. Laurenz erklärte, meistens Männer mit leichter Verblödung, die man frei herumlaufen lassen konnte – gelangten sie zu einem zweistöckigen, im Winkel gebauten, weißgetünchten Gebäude, das den Eindruck eines Kurhotels machte. In der Sonne, auf der Wiese, standen Liegestühle unter bunten Sonnenschirmen, und die Kranken, die sich dort ausruhten, nahmen keinerlei Notiz von den drei Besuchern, sondern lasen oder hielten einen Mittagsschlaf. Ein friedliches Bild wie in einer Sommerfrische.
»Auch Kranke?« fragte Jutta leise.
Dr. Laurenz nickte. »Unheilbar.«
»Und sie sehen aus wie Urlauber!«
»Ein Schizophrener sieht aus wie Sie und ich. Nur wenn einer auf Sie zukommt und sich als Bismarck vorstellt, wissen Sie, wen Sie vor sich haben.«
Im Zimmer 32 schien die Sonne hell und heiß durch die breite Balkontür. Die Luft war stickig und verbraucht, wie ein Brutofen war das Zimmer. Werner Ritter und Jutta brach der Schweiß aus den Poren, kaum daß die Tür geöffnet wurde. Die Hitze einer überheizten Sauna prallte ihnen entgegen.
In dieser Glut saß auf einem Stuhl ein Mann, eingehüllt in einen dicken Pelzmantel, über dem Kopf eine Pelzmütze, und schlug wie ein Frierender die Arme gegen den Körper, als Dr. Laurenz eintrat.
»Der Schneesturm läßt nicht nach«, stöhnte der Mann, »bis zur Hälfte sind die Zelte zugeweht! Hören Sie, wie die Schlittenhunde jammern? Was soll ich tun? Wir müssen warten, bis sich der Sturm gelegt hat …«
»Darf ich vorstellen: Roald Amundsen! Er ist nahe vor seinem Ziel, dem Südpol! Wenn das Wetter besser wird, hat er ihn in vier Tagen erreicht!«
»In neun Tagen, mein Bester!« Der in der Sonnenglut frierende Kranke schüttelte sich. Offensichtlich ging ihm der Frost bis auf die Knochen. »Glauben Sie, daß die Hunde überleben?«
»Sicherlich! Sie sind zähe Burschen!« Dr. Laurenz setzte sich dem Kranken gegenüber. Jutta Boltenstern und Werner Ritter blieben an der Tür stehen. Sie bekamen kaum noch Luft, so heiß war es im Zimmer. »Wie kalt ist es eigentlich?« fragte Dr. Laurenz freundlich.
»Vierzig unter Null!« Der Kranke, der sich einbildete, Amundsen zu sein, klapperte schaurig mit den Zähnen! »Eine Katastrophe ist es. Ich war vorhin vor dem Zelt, mußte Wasser lassen! Der Urin gefror sofort zu einer Stange … ich mußte sie abbrechen! Und das so nahe vor dem Pol! Aber ich erreiche ihn! Als erster Mensch werde ich auf dem Südpol stehen!«
»Der zweite Fall«, sagte Dr. Laurenz später auf dem Flur von Block I, »ist schwerer. Unser Amundsen ist harmlos. Er friert bloß immer! Das Zimmer lüften können wir nur, wenn er auf der Toilette ist. Machen wir die Fenster auf, wenn er im Raum ist, heult er wie ein Schlittenhund und zeigt – das ist hochinteressant – deutliche Symptome von Erfrierungen an Händen und Füßen!«
»Und wie wollen Sie diesen Armen heilen?« fragte Jutta. Der Anblick des zitternden Kranken lag schwer auf ihrem Herzen.
»Heilen?« Dr. Laurenz hob leicht die Schultern. »Wer wagt an solche Glücksfälle zu denken? Einmal, aber auch nur einmal, ist es uns gelungen, das wahre Gesicht dieses Kranken zu sehen: Wir konnten seinen Spaltungsirrsinn zurückspalten, wir holten den unterdrückten normalen Menschen hervor. Es war erschütternd. Dr. Jörg Morgans, so heißt der Kranke, war wieder Chemiker und verlangte entschieden, aus diesem ›Hotel‹ wieder zu seinem Labor gebracht zu werden. Er empfing seine Frau und die Kinder, ging mit
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