Zum Nachtisch wilde Früchte
alle, wenn man auf ihr Portemonnaie klopft. Wenn du mir 10.000 gibst, als Anfangskapital für St.-Tropez, könnte ich unter Garantie alles vergessen.« Mary hatte den Kopf etwas schief gelegt, und der Wind zerwühlte ihr Haar. Sie sah bezaubernd aus, wenn sie den Mund nicht aufmachte und sprach. »Ich will in St.-Tropez bleiben. Menschenskind – hier ist jeder Händedruck schon einen Hunderter wert!«
Toni Huilsmann antwortete nicht. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um sich um die Pläne der roten Mary zu kümmern. Sie hatten auch keinen Einfluß auf sein Denken. Viel mehr erschreckte es ihn, daß die Kriminalpolizei in aller Heimlichkeit weiter ermittelte, daß die rote Mary – und mit ihr die anderen drei Mädchen dieses Abends – mehr gesehen hatten, als Boltenstern es ihnen verraten hatte, und daß er, Huilsmann, ab sofort in die Lage gedrängt wurde, für ein Wissen zu zahlen, das sich zu einer lebenslangen Rente entwickeln konnte.
»Komm!« sagte er kurz. »Wir holen dein Gepäck, und du wohnst heute nacht bei mir. Morgen besorge ich dir ein gutes Zimmer.«
»Und 10.000 Emmchen?«
»Auch.«
Das runde Gesicht der roten Mary glänzte. So macht man Karriere, dachte sie glücklich. Himmel, wie viel Zeit hat man doch in Dortmund verplempert! Immer die gichtigen Knacker, die schon nach dem Pfänderspiel Atembeschwerden bekommen, oder die herzkranken Manager, die nach einem Ringelreihen japsend auf der Couch liegen und von ihrer Ehefrau philosophieren, die geistig nicht in die Stellung des Mannes mitgewachsen ist. Wie muffig ist das alles, wie hausbacken …
In dieser Nacht schlief die rote Mary glücklich wie ein Kind, das dem Nikolaus in den Sack sehen durfte und sich die Geschenke selbst aussuchte. Sie merkte nicht, wie Huilsmann wieder fortging … die Fahrt nach St.-Tropez, die neun Bestellungen im Notizbuch, 10.000 Mark, ein neues Zimmer … das ist wahrhaftig genug für den ersten Tag. Man darf ausschlafen.
Huilsmann aber wanderte durch die laue, von Stimmen und Musik durchsetzte Nacht. Er war in keiner Panikstimmung mehr, er wußte bereits, was er zu tun hatte, nur war er sich nicht einig, wie es vonstatten gehen sollte, ohne Aufsehen, glatt und spurenlos. Und Skrupel hatte er, trotz der Notwendigkeit, es zu tun, weil er sonst keinen anderen Ausweg sah. Er war nicht Boltenstern, der kühl bis ans Herz handeln konnte … er hatte nichts gemeinsam mit Richard Erlanger, der vor Intelligenz fast geborsten war, er besaß nicht die entwaffnende Naivität Schreiberts, und ihm fehlte der Schneid des Majors Ritter. Er war ein Künstler. Weich und labil, scheu vor allen Konsequenzen und ängstlich, wo andere mutig und hart werden. Er wich aus, statt zurückzuschlagen; er sah zur Seite, um nichts zu sehen und um seine Meinung gefragt zu werden; er leugnete und log, statt einen festen Standpunkt zu haben. Er liebte die Sorglosigkeit des Lebens, er betete den Genuß an, ohne dafür zahlen zu müssen.
Und ihn, den Weichen, den Feigling, den ständig Ausweichenden, machte das Schicksal jetzt zum Henker.
Wer kann ermessen, was im Inneren Huilsmanns vor sich ging?
Er wanderte ruhelos durch die engen Gassen der Altstadt, rauchte und wich Betrunkenen aus, floh vor einer Schlägerei in einen dunklen, stinkenden Hausflur und wanderte dann weiter durch die Nacht.
Plötzlich stand er vor der alten Kirche, und es zwang ihn ein innerer Drang, einzutreten und langsam durch das schmale Kirchenschiff zu gehen bis zu einer großen Christusfigur, die auf einem Steinsockel stand. Vier lange Kerzen flackerten vor dem hölzernen Korpus und belebten das wurmstichige Holz zu einer erschreckenden Gegenwärtigkeit.
Toni Huilsmann sah hinauf zu der alten, dicken Balkendecke der Fischerdorfkirche, dann glitt sein Blick über den Marienaltar zurück zu dem großen, hölzernen Christus vor sich. Er konnte nicht behaupten, jetzt ruhiger zu sein – im Gegenteil, etwas Revolutionäres kam in ihm hoch, eine fremde Art von Stärke, die einen Blutschwall in sein Gesicht trieb.
»Ich glaube nicht an Gott!« sagte er laut und schrak zusammen, weil seine Stimme in der leeren nächtlichen Kirche dröhnte, als spräche er über große Lautsprecher. »Auch an dich glaube ich nicht«, sagte er etwas leiser und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen den Fuß des Christus. »Ich sage das ganz offen. Und ich bin nicht hier, weil ich Hilfe oder Schutz oder Rat suche! Aber ich kann dir alles erzählen, du unterbrichst mich
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