Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Diplomat, sie alle können ebenso ausdrucksstark agieren wie Lecoqs Schauspieler: Während sie einige Aspekte ihres Verhaltens neutralisieren, treten andere Aspekte in den Vordergrund. Die neutrale Maske vermag die Präsenz auch auf der Bühne des alltäglichen sozialen Verhaltens zu verstärken.
Diese Möglichkeit sollten wir uns etwas genauer ansehen. Berufsschauspieler, ob sie sich nun an Lecoq orientieren oder nicht, müssen zweifellos ihre eigenen Ängste unterdrücken, um auf der Bühne zu einem kraftvollen Ausdruck zu finden. Um übermäßige Spannungen abzubauen oder überschüssige Energie loszuwerden, konzentriert sich der Darbietende auf spezifische, fokussierte und vor allem kleine Gebärden. Solch eine Fokussierung auf Details kann Spannungen abbauen – dasselbe Ziel wie bei der Maske. Der Schauspieler Laurence Olivier war ein Meister der kleinen fokussierten Geste, denn er vollführte mit seinen Armen und Händen nur selten ausladende Bewegungen. Dieselbe Arbeit am Detail gehört auch zu den Geheimnissen der Bühnenpräsenz großer Tänzerinnen wie Sylvie Guillem oder Suzanne Farrell, die den Zuschauern den Eindruck einer gewaltigen, die Bühne füllenden Präsenz vermitteln, und das durch fokussierte Details wie eine plötzliche Drehung des Fußes oder der Hand.
Diese Beobachtung führt uns einen Schritt weiter in unserem Vergleich zwischen Bühne und Straße. Auch Kooperation wird zu einer ausdrucksstärkeren Erfahrung, wenn sie sich auf kleine Gesten fokussiert. Viele dieser verbindenden Gesten sind körperlicher und nonverbaler Art, wie wir in der Geigenbauwerkstatt gesehen haben. Und eine Dimension des Rituals liegt in der Choreographie von Gesten physischer wie auch sprachlicher Art, so dass sie wiederholt und immer wieder dargeboten werden können. Die fokussierte Bühnenarbeit vermag zu erklären, warum wir uns in solchen Formen sozialer Praxis expressiv verhalten können. Wir fühlen uns physisch weniger angespannt, und so kann Entspannung sich als anregend statt als betäubend erweisen.
Die von Dasté und Lecoq für die Bühne entwickelten neutralen Masken sollten unpersönlich in dem Sinne sein, dass dieselbe Maske von Männern und Frauen, von kleinen dicken und von gertenschlanken Schauspielern getragen werden konnte. So sind sie frei von jeder Typisierung. Als ich mir Aufführungen von Anhängern dieser Methode ansah, fiel mir auf, dass sich das Publikum stärker mit dem Tun des Schauspielers befasst als mit seinem Aussehen. Der unpersönliche Darsteller lenkt die Aufmerksamkeit stärker auf die Rolle als auf sich selbst. Das ist eine Hinwendung nach außen, wie sie auch bei komplexen Formen der Kooperation mit Menschen erforderlich ist, die man nicht mag oder nicht kennt. Lecoq sieht in dieser Art von Theater einen Kooperationsraum, und diese Beschreibung lässt sich auch auf den sozialen Bereich übertragen.
Soziale Masken bieten also nicht nur Schutz, sondern können auch Ausdruck ermöglichen. Man könnte versucht sein, in der Alltagsdiplomatie, die in ihren unterschiedlichen Formen gleichfalls neutrale Masken verwendet, lediglich eine Manipulation anderer Menschen zu erblicken. Dabei ist es umgekehrt so: Wenn wir uns nicht darauf konzentrieren, uns selbst zu enthüllen oder zu charakterisieren, können wir einen gemeinsamen sozialen Raum mit Ausdrucksinhalten füllen. Lecoqs Theater verfolgt das Ziel, den Stardarstellern ihre Bedeutung zu nehmen, und er behauptet sogar, das Theater demokratisiert zu haben. Seine Methode ist zweifellos das Gegenteil der Selbstdramatisierung des tanzenden Königs Ludwig XIV., und sein sozialer Anspruch ist durchaus nicht abwegig, auch wenn seine Demokratisierung des Theaters überhaupt nicht das umfasst, was Tocqueville unter Demokratie verstand. Die neutrale, unpersönliche Maske ist eine Möglichkeit, die es dem Schauspieler gestattet, sich nach außen zu wenden und dadurch einen gemeinsamen Raum mit dem Publikum zu schaffen. Komplexe Kooperation bedarf solch einer Wendung nach außen, wenn ein gemeinsamer Raum entstehen soll. Die Alltagsdiplomatie erzeugt expressive soziale Distanz. Aus diesem abstrakten Rezept ergeben sich konkrete politische Folgerungen.
IX Die Gemeinschaft
Engagement und Partizipation
Im ersten Kapitel habe ich kurz die Nachbarschaftsheime ( settlement houses ) in Chicago angesprochen, in denen die informelle Kooperation Kindern aus ärmeren Schichten wie mir half, einen sozialen Anker zu finden. Am Ende dieser Studie
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