Zwergenbann: Roman
scheinen über ein gut durchstrukturiertes Gesellschaftssystem zu verfügen, in dem sie unterschiedliche Aufgaben ausführen. Was sie uns ähnlich und nur noch gefährlicher macht.«
Nachdenklich kaute Ailin auf einem Stück Brot herum und spülte mit einem Schluck Wasser nach.
»Aber wenn dieses Wesen uns unbemerkt verfolgen wollte, was sollte dann der Überfall gestern Nacht?«, fragte sie. »Damit hat es seine Tarnung aufgegeben. Warum? Hat es seine Triebe einfach nicht mehr unter Kontrolle halten können?«
»Daran habe ich auch zuerst gedacht, aber …«
Warlon verstummte, als Malcorion den Kopf wandte und sie über die Schulter hinweg ansah.
»Ihr begreift es immer noch nicht, wie?«, sagte er scharf und zeigte damit, dass er jedes Wort verstanden hatte, obwohl er ein gutes Stück entfernt saß und sie sich kaum lauter als flüsternd unterhalten hatten. Er musste über ein extrem scharfes Gehör
verfügen. »Diese Kreatur ist nicht von ihren Trieben überwältigt worden. Alles geschah aus grausamer Berechnung, damit wir genau so handeln, wie wir es tun. Damit ich mich so entscheide, wie ich mich entschieden habe.«
»Aber … ich verstehe nicht«, murmelte Warlon und blickte ihn verwirrt an.
»Erst in den letzten Stunden ist mir bewusst geworden, dass wir genau das tun, was dieses Ungeheuer beabsichtigt hat, deshalb habe ich darüber nachgedacht, ob ich mich wirklich richtig entschieden habe oder besser umkehren sollte, statt euch zu führen. Und ich bin mir auch jetzt noch nicht sicher.«
»Umkehren? Aber wieso?«, fragte Ailin verständnislos. »Warum tust du, was diese Kreatur will, wenn du uns hilfst, die Elben um Beistand gegen diese Bedrohung zu bitten?«
»Weil sie noch sehr viel intelligenter und bösartiger ist, als ihr bis jetzt begriffen habt.« Malcorion erhob sich, kam zu ihnen herüber und setzte sich neben sie auf den Baumstamm. »Es waren die Hochelben, die ihre Vorfahren vor Jahrtausenden besiegten und in die Tiefe verbannten. Ihnen gilt der ganze Hass dieser Bestien, viel mehr als euch Zwergen oder irgendeinem anderen Volk. Sie brennen darauf, sich an ihnen zu rächen. Aber dafür müssen sie erst einmal herausfinden, wo sie sich aufhalten.«
Warlon riss die Augen weit auf. Zu ungeheuerlich war das, was Malcorion andeutete.
»Du glaubst, dieses Wesen weiß, wohin wir unterwegs sind, und es verfolgt uns in der Hoffnung, dass wir es zu seinen Erzfeinden, den Hochelben, führen? Das ist unmöglich! Die Beratungen fanden in Elan-Dhor hinter verschlossenen Türen und unter dem Schutz der Priesterinnen statt. Sie hätten es bemerkt, wenn dieses Ungeheuer in der Nähe gewesen wäre. Es konnte unmöglich wissen, was wir vorhatten.«
»Vielleicht wusste es das noch nicht, als ihr aufgebrochen seid, sondern wollte nur die Gelegenheit nutzen, mehr über die Oberfläche und eure Absichten herauszufinden. Aber dann hat es
durchschaut, was ihr vorhabt, und seine Chance erkannt. Anderenfalls hätte es auch euch vielleicht schon längst zu töten versucht. Und gestern Abend muss diese Bestie mitbekommen haben, dass ich euch wegen Shaali und den Kindern nicht führen wollte, was eure Chancen, das Ziel zu erreichen, wesentlich verringert hätte. In seiner unmenschlichen Grausamkeit tötete der Dunkelelb sie deshalb, auch wenn das bedeutete, dass er sich offenbaren musste.«
Bedrücktes Schweigen folgte seinen Worten. Widerwillig musste Warlon eingestehen, dass die Vermutung des Waldläufers Antworten auf zahlreiche offene Fragen bot. So ergab alles einen Sinn, so wenig es ihm auch gefiel, weil es zugleich bedeutete, dass sie ihren Feind erheblich unterschätzt hatten. Nicht nur den Dunkelelb, der ihnen folgte, sondern seine gesamte Spezies. Obwohl außer Frage stand, dass sie intelligent waren - sie benutzten ja auch Kleidung und trugen Waffen -, hatte er bislang dennoch geglaubt, ihr Hass auf alles, was anders war als sie, würde ihr ganzes Denken beherrschen und sie unfähig für klare, nüchterne Überlegungen machen. Ein Gegner, der mit List, Tücke und Verschlagenheit kämpfte, war ein wesentlich schrecklicherer Feind als einer, der sich allein von Trieben wie Rachsucht und Mordlust leiten ließ, wie er es von den Dunkelelben bislang angenommen hatte.
»Ich hoffe, ihr versteht mein Dilemma«, fuhr Malcorion fort. »Wenn ich euch zum goldenen Tal führe, wo die Elben leben, hat die Kreatur nicht nur erreicht, was sie mit den Morden bewirken wollte, sondern ich bringe auch die Bewohner des Tals
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