Zwergenbann: Roman
zurechtfinden konnte, ohne die Orientierung zu verlieren, aber nach der Sicherheit zu urteilen, mit der er sich bewegte, schien der Waldläufer hier jeden Fußbreit Boden zu kennen.
Warlon versuchte sich vorzustellen, wie es ihm ohne die angeborene Fähigkeit der Zwerge, jeden Weg, den sie schon einmal gegangen waren, wiederzufinden, hier ergehen würde. Sicherlich, jeder Baumstamm besaß seine eigene charakteristische Form, doch wer konnte sich schon Millionen von Baumstämme und noch dazu die Stelle einprägen, an der sie wuchsen? Schon nach kürzester Zeit hätte er sich hoffnungslos in dieser grünen, vor fremdartigem Leben wimmelnden Hölle verirrt. Der bloße Gedanke ließ ihn schaudern, und Warlon war mehr als froh, dass diese Gefahr nicht bestand. Zumindest den Rückweg würde er jederzeit wiederfinden.
Angenehm war die Wanderung dennoch keineswegs, auch wenn Malcorion jetzt mehr Rücksicht auf ihn und die anderen nahm und kein so schnelles Tempo wie am Vormittag mehr vorlegte.
Die Luft unter dem dichten, grünen Blätterdach hoch über
ihren Köpfen wurde immer drückender, schien wie ein ständig schwerer werdendes Gewicht auf ihnen zu lasten. Nicht der leiseste Windhauch war zu spüren. Selbst wenn er noch so tief einatmete, hatte Warlon das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Es war fast, als wolle der Wald nicht, dass sie sich hier aufhielten, und versuche deshalb, ihnen das Vorankommen so beschwerlich wie möglich zu machen.
Nur mühsam schleppten Lokin und er sich noch dahin, und auch Ailin zeigte deutliche Spuren von Erschöpfung.
»Wie groß ist dieser Wald denn noch?«, wandte er sich schließlich keuchend an Malcorion. »Wann erreichen wir endlich sein Ende?«
»Sein Ende?« Der Waldläufer stieß ein lautes Lachen aus. »Wir sind noch nicht einmal einen Tag unterwegs, und du fragst bereits, wann wir das Ende des Waldes erreichen?«
»Und was ist daran so lustig?« Die Strapazen und die ungewohnte Umgebung ließen Warlon gereizter als gewöhnlich reagieren. Schließlich hatte er nur eine ganz normale und in seinen Augen durchaus angebrachte Frage gestellt.
»Tut mir leid.« Das Lachen verschwand aus Malcorions Gesicht, als er stehen blieb und sich den Zwergen zuwandte. »Ich fürchte, ich bin kein besonders guter Führer für euch, meine kleinen Freunde. Ich bin es gewohnt, allein umherzustreifen, und vor allem vergesse ich immer wieder, woher ihr kommt und wie fremdartig euch etwas für mich so Alltägliches wie ein Wald scheinen muss. Ich hätte euch besser auf das vorbereiten müssen, was euch erwartet. Ihr habt auf dem Weg zu mir vermutlich schon einige Wälder gesehen oder durchquert, doch glaubt mir, sie verdienen diese Bezeichnung nicht einmal. Nur eine Ansammlung von ein paar Bäumen, mehr nicht.«
»Ich habe schon eine Menge Wälder gesehen, die wesentlich mehr als nur eine Ansammlung von ein paar Bäumen waren«, widersprach Lokin. »Manche waren so groß, dass man sie auch aus der Ferne kaum überblicken konnte.«
Erneut lächelte Malcorion.
»Aber genau davon spreche ich. Verglichen hiermit sind das alles nur kleine Wäldchen. Dies ist der Grenzwald, wie er allgemein bezeichnet wird, weil er sich über unzählige Meilen entlang der Grenze zwischen Lartronia und Radon erstreckt, oder der Elem-Laan, der Finsterwald, wie er einst von den Elben genannt wurde. Ihn seiner ganzen Länge nach von Osten nach Westen zu durchwandern würde Monate erfordern.« Als er das Entsetzen auf den Gesichtern der Zwerge sah, fügte er rasch hinzu: »Keine Sorge, das ist nicht unser Weg. Der Elem-Laan ist längst nicht so breit wie lang, und wir halten uns in nördlicher Richtung. Auf diese Art überqueren wir die Grenze nach Radon. Aber wir werden wohl dennoch zwischen einer und zwei Wochen benötigen. Jetzt könnt ihr euch vielleicht eher eine Vorstellung von der Größe des Finsterwalds machen.«
Warlon bemühte sich, sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen, mit dem diese Ankündigung ihn erfüllte. Eine Woche? Sie sollten tatsächlich eine Woche lang durch diesen Wald laufen, nachdem schon der erste Tag sich als ungleich anstrengender erwiesen hatte als ihre gesamte vorherige Reise?
Schon vor dem Versuch, sich ein so ungeheuer großes Gebiet nur vorzustellen, kapitulierte sein Verstand. Zwar hatte er längst erkannt, dass Entfernungen an der Oberfläche eine ganz andere Bedeutung besaßen als in der Tiefenwelt, wo man jeden bekannten Ort innerhalb von ein, höchstens zwei Tagen erreichen
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