Zweyer, Jan - Rainer Esch 03
mitmachen, tut er unserer Mutter was. Und dass wir mit keinem darüber reden dürfen. Sonst würde etwas passieren. Und jetzt hab ich…«
Dennis begann zu weinen.
»Für mich gilt das nicht. Ich habe ja schließlich geschworen.
Ehrenwort«, bekräftigte Rainer ihren Pakt.
»Meinst du?« Auf Dennis’ Gesicht zeichnete sich ein Hoffnungsschimmer ab.
»Klar.«
»Wenn du meinst. Icke hat gesagt, dass das doch sowieso die Versicherung bezahlen würde und mir könnte ja auch nichts passieren, weil ich noch zu klein bin. Außerdem hätten die doch so viele Zigaretten im Laden, da würde es kaum auffallen, wenn da ein paar Schachteln weg sind. Und ich hab selbst gesehen, wie Paul und Dieter da Bonbons geklaut haben, wenn die Frau weggeguckt hat. Die haben das auch gemacht.
Und da haben wir uns gedacht, wenn der Icke dafür nichts unserer Mutter tut und die anderen das auch machen, dann kann das doch nicht so schlimm sein, oder?« Dennis sah ihn, um Absolution bittend, an.
»Nein, wohl nicht«, beruhigte Rainer den Kleinen. »Weißt du irgendwas über Briefe, die Frau Schattler bekommen hat?«
»Frau Schattler? Kenn ich nicht.«
»Die Kioskbesitzerin.«
»Die heißt so? Nee, weiß ich nicht. Da müsstest du den Postboten…«
»War nur so eine Idee. Wer ist Icke denn nun?«
»Ein Freund von Polle. Der spricht so ulkig. Wenn der ›ich‹
sagen will, sagt der immer ›icke‹. Deshalb heißt der auch Icke.
Mit Spitznamen.«
»Weißt du seinen richtigen Namen?«
Dennis nahm einen tiefen Schluck Cola. »Nö. Wir sagen alle nur Icke.«
»Weißt du denn, wo der wohnt?«
»Nö. Irgendwo da vorne.« Dennis zeigte in Richtung Norden.
»Da runter, is, glaube ich, nich weit.«
»Woher wusstet ihr denn, dass Icke im Karlseck war?«
»Wussten wir nicht. Haben wir uns gedacht. Weil der ist da immer drin. Oder oft«, schränkte Dennis ein.
»Und Polle? Warum ist der mit Icke mitgegangen? Und warum bist du weggelaufen?«
»Weiß nicht.«
»Dennis, nun erzähl schon.«
»Weiß nicht.«
»Dennis, das ist nicht fair.«
Der Junge zögerte. Dann platzte es aus ihm heraus: »Icke wollte, dass wir das auch bei Karstadt machen.«
»Was solltet ihr bei Karstadt machen?«
»Sachen klauen. Radios und so. Aber ich wollte nicht.
Deshalb bin ich weg.«
»Und Polle?«
»Weiß nicht.«
»Dennis…«
»Icke hat gesagt, wenn Polle und ich nicht mitmachen, tut er meiner Mutter was und Polle muss dann ins Gefängnis und ich ins Heim. Aber ich wollte trotzdem nicht.
Er hat Polle gezwungen, mit ihm mitzukommen. Ich weiß nicht, wohin.« Dennis fing wieder an zu weinen. »Polle wird bestimmt sauer auf mich sein, weil ich dir das erzählt habe.«
»Du musst es ihm ja nicht sagen«, versuchte Rainer den Jungen zu beruhigen.
»Polle weiß das sofort. Der weiß immer alles, was ich denke.
Immer. Das war schon früher so. Polle ist nämlich ziemlich schlau.«
»Kann ich mir vorstellen.«
Dennis versank in seinem Colaglas und schwieg.
Rainer machte noch einen Anlauf: »Und mehr weißt du nicht?«
»Nee, mehr nicht.«
»Hm.« Rainer rief die Kellnerin und bezahlte. »Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Sie hatten gerade die Eisdiele verlassen, als Rainer vor den Schaufenstern des Kaufhauses gegenüber auf eine Frau aufmerksam wurde, die ihn mächtig an Karin Schattler erinnerte. Er suchte Deckung in der Menge und musterte die Frau verstohlen: Kein Zweifel, das war Karin Schattler. Sie wurde von einem großen, schlanken Mann mit dunklen Haaren begleitet, den Esch nicht kannte.
»Da vorne steht Frau Schattler, siehst du sie?«, fragte er Dennis.
»Hmm«, gab der zur Antwort.
Rainer wertete das als Bestätigung. »Kennst du den Mann neben ihr?«
»Nö. Aber der war öfter am Kiosk.«
»Bist du dir sicher?«
Dennis sagte nichts mehr. Für ihn schien das Gespräch beendet zu sein.
Schweigend gingen sie die wenigen Meter vom Citycenter zu dem Hochhaus.
Dort gab Rainer Dennis einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Mach’s gut.«
Dennis trottete mit gesenktem Kopf zum Hauseingang und Rainer steuerte auf sein Fahrzeug zu. Er überlegte, ob er dem Jungen nicht doch hätte gründlich ins Gewissen reden müssen, gewann dann aber die Überzeugung, dass er, statt einem knapp Zwölfjährigen eine Rede über Anstand und Moral zu halten, sich genauso gut mit seiner Zimmerwand unterhalten konnte.
Wäre Esch nicht so in Gedanken vertieft gewesen, wären ihm vielleicht jetzt die beiden Männer aufgefallen,
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