Zwillingsbrut
Die Vorstellung konnte beginnen, Joelle hatte die Bühne perfekt vorbereitet.
Doch es gab noch ein paar Ungereimtheiten in dem Fall, die Pescoli keine Ruhe ließen. Laut Kacey Lambert war Cameron Johnson der Mann gewesen, der sie vor ein paar Jahren in Seattle in einem Parkhaus überfallen hatte. Unbestreitbar war der Kerl ein Psychopath erster Güte, der immer mehr in einen Blutrausch geraten war und deshalb immer größere Risiken auf sich genommen hatte. Doch das erklärte nicht alles. Woher hatte er all die Informationen über die Klinik und seine Opfer? Hatte er das wirklich alles allein herausgefunden? Sie glaubte das nicht.
Außerdem: In der Nacht, in der es zum tödlichen Showdown gekommen war, war Leanna O’Halleran mit einem gestohlenen Gewehr aufgekreuzt, einem Gewehr, das – so hatte sich später herausgestellt – Clarissa Johnson Werner gehörte.
Pescoli hatte Clarissa und ihren Mann vernommen, die beide behaupteten, Leanna habe die Waffe eigens dafür benutzt, um dem Johnson-Clan zu zeigen, dass sie ihr den Buckel runterrutschen konnten. Dieselbe Ironie zeigte sich auch bei der Wahl ihres Fahrzeugs, eines BMW, dasselbe Modell, das auch Clarissa fuhr – ein weiterer Hinweis in Richtung der Johnsons.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Doch da waren noch mehr lose Enden zu verknüpfen …
Wieder sah Pescoli auf die Uhr und schnaubte ungeduldig. Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg zu Alvarez’ Arbeitsplatz. Auch sie war dem weihnachtlichen Chorsingen bisher ferngeblieben und blickte nun mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrem Schreibtisch auf.
Als sie sich zuvor bei ihrem Lieblingsdeli einen Kaffee geholt hatten, hatte sie ihre Partnerin gefragt: »Du gibst dich doch nicht wirklich damit zufrieden, oder?«
»Nein«, hatte Pescoli kurz und knapp erwidert und sich einen dreifachen Schoko-Mochaccino mit einem Hauch Pfefferminz gegönnt, weil Weihnachten war.
Alvarez bestellte einen grünen Tee.
Wie eklig!
Jetzt hakte ihre Partnerin erneut nach. »Was hast du vor?«
»Ich habe Gerald Johnson einbestellt, er müsste in fünfzehn Minuten da sein. Ich gehe mal davon aus, dass er seinen Lieblingsanwalt mitbringt.«
»Judd?«
»Hm, hm. Und ich habe eine Überraschung für ihn.«
»Ich kann’s gar nicht abwarten!«
»Dann komm«, sagte Pescoli, und Alvarez folgte ihr nach vorne zum Empfang. Wie aufs Stichwort betraten Gerald und Judd Johnson das Department. Judd war gekleidet wie für einen Fall vor Gericht, Gerald trug einen Pullover, Skijacke, Jeans. Er wirkte abgespannt und erschöpft.
»Ich verstehe nicht, warum du herkommen wolltest«, sagte Judd zu seinem Vater. Dann blickte er Pescoli an und fügte hinzu: »Ich habe Ihnen doch schon alles über meinen Bruder gesagt.«
Pescoli führte die beiden in ein Vernehmungszimmer. Judd versteifte sich.
»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte er.
»Um die Wahrheit«, erwiderte Pescoli und stellte den Rekorder auf Aufnahme. »Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt. Einiges will sich nicht ganz zusammenfügen lassen. Vielleicht können Sie für Klarheit sorgen.«
»Das wäre ganz in meinem Sinne«, sagte Gerald.
Judd zeigte sich weniger hilfsbereit. »Dad«, sagte er warnend zu seinem Vater, »ich glaube, das ist keine gute Idee.«
Pescoli ignorierte ihn und bedeutete Vater und Sohn, Platz zu nehmen, während Alvarez die Tür hinter ihnen schloss. »Als wir über Agatha-Raes Unfall gesprochen haben, waren Sie sich nicht ganz einig«, begann Pescoli, an Gerald gewandt. »Sie sagten, sie habe sich in ihrer Kuscheldecke verwickelt, sei gestolpert und die Treppe hinuntergestürzt.«
»Nein«, widersprach Judd. »Ich weiß noch, dass Cameron sie umgerannt hat. Keiner hat es mehr geschafft, sie aufzufangen.«
»Sie sagten auch, er habe sie gestoßen«, erinnerte ihn Pescoli, die auf der anderen Seite des zerschrammten Vernehmungstisches Platz genommen hatte.
»Nun, ich denke, es war ein bisschen was von beidem.« Judd kniff die Augen zusammen und straffte die Schultern. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich aber«, schaltete sich Gerald ein. »Als ich an jenem Abend nach Hause gekommen bin, war Cameron vollkommen außer sich. Er stammelte immer wieder, er habe das nicht gewollt, habe Aggie nicht stoßen wollen, aber es sei nicht anders gegangen, was ich nicht verstand. Thanes Version lautete etwas anders. Er sagte, du, Judd, seist in Cameron hineingerannt, so dass er gegen Aggie stürzte. Colt wiederum
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