Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
ist schwarz wie eine Rabenschwinge, die Trauer ist kalt wie die Mittwinternacht, so lang, und so ausweglos.«
Bestimmt hat Pilgrim das selbst geschrieben, dachte Johansson. Vielleicht war das etwas, das nur er und Raven verstehen konnten und das jetzt als letzter Gruß dienen musste. Was hatte diese überaus begabte Frau noch gesagt, die ihm vor ungefähr einem Monat begegnet war? Ein Mann mit poetischer Veranlagung oder poetischem Ehrgeiz?
Johansson ließ sich im Schreibtischsessel zurücksinken, während er den Rücken reckte und die Finger im Nacken verschränkte, um besser denken zu können. Aber diesmal half das nichts. Also nahm er sich Krassners Manuskript vor und las weiter. Es blieb nur noch ein knappes Drittel, ein dünner Stapel, der sich in der Hand wie nichts anfühlte und dessen Inhalt nur wenig Neues verhieß. Krassner zufolge hatte Buchanan in seiner aktiven Zeit fast hundert Agenten für den Kampf um Europas junge, heranwachsende Elite rekrutiert. Er hatte zwei Favoriten gehabt, und sein Neffe behauptete, im Grunde hätten nur diese beiden ihm etwas bedeutet. Der eine war Pilgrim, der andere Raven. Der erste hatte ihn im Stich gelassen, der zweite war ihm getreu bis in den Tod geblieben.
Raven hatte eigentlich Salomon »Sal« Tannenbaum geheißen und war in Pilgrims Alter gewesen. Geboren und aufgewachsen in New York, in einer wohlhabenden intellektuellen jüdischen Familie, und dem »Iren« Krassner zufolge war eine feinere Herkunft in der internationalen Nachrichtenwelt kaum denkbar, egal, ob man »seine braunen Augen« in Moskau, Warschau, London oder New York aufschlug.
Muss an deinem deutschen Papa liegen, dachte Johansson gehässig und starrte dann weiter den spärlichen Text an.
Seinen Agentennamen Raven verdankte er Buchanan, es war eine selbstverständliche und einfache Entscheidung, da er aussah wie ein Rabe und klug war wie zwei. Nach seinem Jurastudium in Harvard und einem frühen Engagement in der amerikanischen Studentenbewegung hatte er Buchanan kennen gelernt, war als Agent für die CIA angeworben worden und nach Europa gereist, um einen ersten Vorstoß bei den kommunistischen Studentenorganisationen zu versuchen.
In Frankfurt am Main war Raven im November 1948 Pilgrim begegnet. Nicht unerwartet waren sie einander sympathisch gewesen.
Ravens Einsatz an der europäischen Front war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen. Er war in die USA zurückgekehrt und hatte als Anwalt gearbeitet, für ungefähr jedes tapfere und politisch korrekte Ziel, das sich in diesem großen Land im Westen überhaupt auftun ließ. Sal Tannenbaum hatte die Bürgerrechtsbewegung vertreten, die schwarzen Panther, die mexikanischen Landarbeiter, die Indianer und sogar die Inuit. Er hatte sich für Rassenintegration engagiert, für Gewerkschaftsrechte, für Frieden in Vietnam und natürlich auch für den Weltfrieden. Er hatte gegen das organisierte Verbrechen und gegen die Ausbeutung der farbigen Unterklasse durch das Kapital gewettert. Fast immer hatte er auf sein Honorar verzichtet – »pro bono« und Krassner zufolge war er an die zwanzig Jahre lang der erfolgreichste Infiltrator der CIA in den »radikalen, sozialistischen und kommunistischen Bewegungen« an der amerikanischen Heimatfront gewesen.
Himmel hilf, dachte Johansson. Wenn das wirklich stimmt, dann hat er es bestimmt nicht leicht gehabt.
Im Mai 1974 hatte ein Mann, vermutlich im jüngeren mittleren Alter, vermutlich weiß, vermutlich gekleidet in einen Anzug und von alltäglichem Aussehen, Tannenbaums Kanzlei betreten. Still und unbemerkt ging er an der Rezeptionistin vorbei, die wie üblich gerade telefonierte, öffnete die Tür zu Tannenbaums Zimmer und schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Danach verschwand er, und wenn man bedachte, wer das Opfer war und wie wenig die Zeugen gesehen hatten, war das Ganze ein polizeilicher Albtraum. Es muss doch vor Motiven und möglichen Tätern nur so gewimmelt haben, dachte Johansson. Und wenn Krassner Recht haben sollte und noch andere zu demselben Schluss gekommen waren, dann konnte man die wohl auch noch mit zwei multiplizieren.
Krassner zufolge war alles ganz einfach. Der Mord an Raven war ein Auftragsmord gewesen. Und zwar bestellt von Pilgrim, dem die neuen Herren, denen er diente, bei der praktischen Ausführung geholfen hatten, nämlich die Sowjetunion und deren militärischer Nachrichtendienst. Deshalb auch der Titel des Buches: Der Spion, der nach Osten ging. Krassners Erklärung war lang,
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