Zwischen Himmel und Liebe
ganz schön groß für einen Jungen, der erst sechs ist, oder nicht?« Vielleicht hatte Luke ihn ja auch deshalb überlebensgroß dargestellt, weil er so ungeheuer wichtig für ihn war.
Kichernd rollte sich Luke auf dem Boden herum. »Ivan sagt immer,
erst
sechs klingt, als wäre man nicht alt genug für irgendwas. Aber er ist auch gar nicht sechs.« Wieder lachte er schallend. »Er ist alt, genau wie du!«
Vor Schreck riss Elizabeth die Augen auf.
Alt wie sie?
Was für einen imaginären Freund hatte ihr Neffe sich da bloß ausgedacht?
Zwölf
Freunde gibt es in allen möglichen Formen, das weiß jeder, warum sollte es bei unsichtbaren Freunden also anders sein? Elizabeth war eindeutig auf dem Holzweg. Sie war
total
auf dem Holzweg, denn soweit ich wusste, hatte sie überhaupt keine Freunde. Vielleicht, weil sie sich nur nach vierunddreißigjährigen Frauen umsah, die aussahen wie sie und sich auch so anzogen und benahmen. An dem Gesichtsausdruck, mit dem sie Lukes Bild von mir und ihm musterte, konnte man sehen, dass sie dachte, Luke sollte das genauso machen. Aber so schließt man keine Freundschaften.
Das Wichtige ist nicht, wie wir
aussehen
, sondern welche Rolle wir im Leben unserer besten Freunde spielen. Freunde suchen sich bestimmte Freunde aus, weil sie mit ihnen in einer bestimmten Zeit ihres Lebens zusammensein möchten, nicht weil sie die korrekte Körpergröße, das richtige Alter und die angemessene Haarfarbe haben. Klar, es ist nicht immer so, aber häufig gibt es einen guten Grund dafür, warum jemand mich wahrnimmt und nicht meinen Kollegen Tommy, der aussieht wie ein Sechsjähriger und dem ständig die Nase läuft. Ich meine, in Lukes Leben gibt es beispielsweise kein anderes älteres männliches Wesen, oder? Nur weil man einen »unsichtbaren« Freund sieht, heißt das noch lange nicht, dass man sie alle wahrnimmt. Man hat zwar die
Fähigkeit
dazu, aber da die Menschen sowieso nur zehn Prozent ihres Gehirns benutzen, wissen sie gar nicht, wie unglaublich viele andere Fähigkeiten sie noch haben. Es gibt so viele wundervolle Dinge, die man sehen könnte, wenn man sich nur richtig darauf konzentrieren würde. Das Leben ist eine Art Gemälde. Ein echt bizarres, abstraktes Gemälde. Man schaut es an und meint, das ist alles, und es kommt einem irgendwie verschwommen vor. Gut, man kann weiterleben und stur bei dieser Überzeugung bleiben, aber wenn man irgendwann anfängt, richtig hinzugucken, wenn man sich konzentriert und seine Fantasie benutzt, dann kann das Leben viel mehr sein. Das Gemälde kann das Meer darstellen oder den Himmel, es können Leute darauf zu sehen sein, Gebäude, ein Schmetterling auf einer Blume oder
irgendwas
anderes. Nicht nur der Nebel, den man anfangs wahrgenommen hat.
Nach dem, was in Elizabeths Büro geschehen war, musste ich dringend ein Imaginat IF -Treffen einberufen. Ich mache meinen Job schon viele Jahre und dachte immer, ich hätte alles erlebt, aber offensichtlich hatte ich mich geirrt. Dass Saoirse mich gesehen und mit mir geredet hatte, war eine Riesenüberraschung gewesen. Ich meine, so etwas war völlig neu. Okay, Luke konnte mich sehen, das war normal. Elizabeth hatte irgendwie ein Gespür für mich, was merkwürdig genug war, aber daran gewöhnte ich mich langsam. Aber dass Saoirse mich sehen konnte! Selbstverständlich kommt es vor, dass man bei einem Job von mehr als einer Person gesehen wird, aber nicht von einem Erwachsenen, ganz zu schweigen gleich von zweien! Die einzige Freundin in der Firma, die sich mit Erwachsenen abgab, war Olivia, und das war auch nicht wirklich eine Regel, es schien nur einfach dauernd so zu passieren. Ich war verwirrt, das kann ich Ihnen sagen, deshalb bat ich die Chefin, alle üblichen Verdächtigen zusammenzurufen und ein Imaginat IF -Meeting außer der Reihe abzuhalten.
Ein Imaginat IF -Meeting wird einberufen, um die derzeitige Situation der Beteiligten zu diskutieren und denjenigen, die vielleicht gerade nicht mehr so recht weiterwissen, mit Ideen und Vorschlägen zu helfen. Ich musste noch nie eines für mich beantragen, deshalb war die Chefin auch ziemlich geschockt, als ich damit ankam, das konnte ich sehen. Der Name der Meetings kommt daher, dass wir alle die Nase voll davon hatten, von den Leuten und den Medien immer nur als »unsichtbare Freunde« bezeichnet zu werden, deshalb beschlossen wir, uns einen richtig schicken, designermäßigen Namen zu geben. Da klingt das Ganze doch schon viel offizieller. Übrigens war
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