Zwischen Leidenschaft und Liebe
waren. Als sie eines Abends den beiden alten Damen wieder dabei zusah, wie sie sich die silbernen Bestecke in die Ärmel schoben, fragte sich Claire, wie man sich fühlte, wenn man ein Dieb war. Sie nahm ihre Salatgabel hoch und schob sich deren Griff in den Ärmel.
Als das Besteck in ihrem Ärmel verschwand, spürte sie ein Paar Augen auf sich ruhen, sah auf und merkte, daß der Butler sie anstarrte. Claire fuhr zusammen und legte die Gabel auf den Tisch zurück.
Am nächsten Morgen stellte sie Harry zur Rede. »Ich muß etwas zu tun haben.«
»Du kannst tun, was dir gefällt«, sagte er, während er seine Reithandschuhe überstreifte.
»Darf ich mitkommen?« In den letzten paar Tagen hatte sie Harry nur bei den Mahlzeiten gesehen, aber nicht mit ihm gesprochen. Jeden Tag war er mit ihrem Vater und ein paar anderen Männern, die aus London zu Besuch gekommen waren, auf der Jagd gewesen.
Harry runzelte kurz die Stirn und versuchte zu lächeln. Er glaubte nicht daran, daß Frauen für die Jagd taugten. Sie neigten zur Unruhe. »Natürlich darfst du das. Aber du mußt dich an die Jagdregeln halten.«
Claire versprach ihm das. Sie wäre mit allem einverstanden gewesen, solange sie nur der Routine des Hauses entwischen konnte. Sie versprach Harry, daß sie ruhig sein und ihn bei der Jagd nicht ablenken würde.
Aber kaum saß sie auf dem Pferd und ritt neben Harry her, schien es, als würde die Wortflut einer Woche aus ihr herausströmen - so versessen war sie darauf, mit jemandem zu sprechen. »Harry«, sagte sie so leise, daß die anderen sie nicht hören konnten, »ich wollte dich schon lange fragen, wie deine Mutter die Neuigkeit von Leatrices Heirat aufgenommen hat. Ich habe nicht einmal ein geflüstertes Wort darüber gehört.«
Sie sah zur Seite, damit er nicht bemerkte, wie sie die Lippen zusammenpreßte. Sie hatte in den letzten Tagen mehr als nur ein Flüstern gehört, aber wenn sie näherkam, verstummte das Getuschel sofort. Zweimal war sie versucht gewesen, Brats Beispiel zu folgen und das Ohr an die Tür zu legen und zu lauschen.
Harry sah sie überrascht an. »Mutter wünscht ihrer Tochter alles Glück der Welt. Sie sagte, wenn sie gewußt hätte, daß Lee heiraten wollte, hätte sie ihr eine schöne Hochzeit ausgerichtet. Aber so, wie Lee sich selbst entehrt hat, sieht sich Mutter nicht dazu ermuntert, Lees Fehlverhalten auch noch mit einer Apanage zu belohnen.«
Wieder mußte Claire zur Seite blicken. Die Herzogin hatte die Situation geschickt für sich ausgenutzt. Claire fragte sich, ob Leatrice und ihr frischverheirateter Gatte genügend Geld zum Leben hatten.
»Du weißt nicht, wer der Mann gewesen ist, der die Trauung vollzogen hat, oder?« fragte Harry.
»Warum willst du das wissen?« Claire versuchte einen unbekümmerten Ton anzuschlagen.
»Mutter hat mich danach gefragt. Ich denke, sie hat jemanden beauftragt, Nachforschungen anzustellen.« Harry lächelte. »Ich glaube nicht, daß Mutter besonders glücklich ist über diesen Mann. Mutter ist überzeugt, sie hätte Lee die Heirat ausreden können, wenn dieser Mann nicht sofort die Trauung vollzogen hätte.«
Claire schenkte Harry ein schwaches Lächeln und wandte wieder das Gesicht ab. Sie wußte mit einemmal, daß alle Eindrücke, die sie damals von der Herzogin empfangen hatte, richtig gewesen waren. Diese schreckliche alte Frau hätte Leatrice gern als Dienerin behalten und wollte sie nicht von dieser Pflicht entbinden.
Claires nächster Gedanke galt Trevelyan. Was würde die Herzogin machen, wenn sie entdeckte, daß Trevelyan die Zeremonie durchgeführt hatte? Claire hatte nur ein Zusammentreffen mit dieser alten Frau erlebt, aber sie glaubte nicht, daß die Herzogin der Typ war, der so leicht verzieh. Was würde sie tun, wenn sie herausfand, daß sich einer ihrer Verwandten im Westturm versteckte und dabei geholfen hatte, ihr wegzunehmen, was sie als ihr Eigentum betrachtete?
Im nächsten Moment ruckte Claires Kopf hoch. Was würde die Herzogin machen, wenn sie entdeckte, daß Claire an dem Komplott, ihr Leatrice wegzunehmen, beteiligt gewesen war?
»Claire?« fragte Harry. »Ist dir nicht gut? Du siehst so blaß aus. Vielleicht solltest du besser zum Haus zurückreiten?«
»Nein, mir geht es gut. Wirklich«, murmelte Claire und lächelte. Um keinen Preis wollte sie in dieses Haus und dessen öde Langeweile zurück.
Acht Stunden später dachte sie voller Verlangen an die stille Friedlichkeit des Hauses. Harry hatte sie zu
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