Zwischen Pflicht und Sehnsucht
du in letzter Zeit keine Zeitungen gelesen hast.“
Sie zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Lady Avery ist zurückgekehrt.“
Das weckte ihr Interesse. „Tatsächlich? Und Lord Avery?“
„Was man so hört, hat er sie zurückgenommen.“
„Oh, ich bin so stolz auf ihn! Wie er sie vermisst haben muss. Ich hoffe, die beiden werden jetzt ihr Glück aneinander finden.“
„Das hoffe ich auch, denn woanders findet er wohl keines.“
Sie legte die Stirn in Falten. „Was meinst du?“
„Ich meine, der arme Mann ist zum Gespött der Leute geworden – jetzt noch mehr als zuvor.“
„Weil er seine Gattin liebt?“ Sophie wirkte ungehalten.
„Weil er wirkt wie ein verliebter Trottel und weil Männer … na ja, eben Männer sind. Die Gesellschaft wird die beiden schneiden. Vielleicht gelingt es ihnen, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, aber Lord Averys politische Laufbahn wird ins Wanken geraten, wenn seine Anhänger ihn verlassen.“ Ganz genau wie meine eigene, dachte Charles. „Wie die Ratten ein sinkendes Schiff.“
Die Bestürzung in ihrem Gesicht rührte und reizte ihn gleichzeitig. „Hast du denn nichts aus meiner Lage gelernt? Aus deinem eigenen Ausflug in die Gerüchteküche?“
„Doch“, gab sie zurück. „Ich habe gelernt, dass London voller Heuchler ist, die nicht zögern, andere zu kritisieren, während sie selbst hinter verschlossenen Türen schlimmere Sünden begehen.“
„Ganz genau!“, erwiderte Charles. „Das ist die wichtigste Lektion im Umgang mit der feinen Gesellschaft. Du kommst mit fast allem davon, wenn du diskret bist. Die einzig unverzeihliche Sünde ist, sich erwischen zu lassen.“
Sie brannte vor Zorn. „Scheinheiligkeit! Es ist lächerlich! Wie kannst du eine solche Ungerechtigkeit so ruhig hinnehmen?“
Herrgott, ist sie schön, wenn sie so leidenschaftlich ist, dachte Charles und schüttelte den Kopf, als ihm die Bedeutung ihrer Frage klar wurde. „Weil ich schon versucht habe, dagegen anzukämpfen, und verloren habe. Hast du meine wilde Jugend vergessen? Ich habe jede Regel der Gesellschaft gebrochen und mit meinen Missetaten geprahlt. Ich habe ihnen ihre Heuchelei ins Gesicht geschleudert – und was hat es mir gebracht? Tod und Verderben.“
„Tod?“
Er hatte zu viel preisgegeben. „Ja“, wich er aus, „auch jetzt noch, nach so langer Zeit, bringt es meiner politischen Karriere den Tod. Ich habe die Waffe für meine Gegner selbst geschmiedet.“
Sie wirkte nicht ganz überzeugt, dass es das war, was er gemeint hatte. „Lord und Lady Avery wissen, wie der ton reagieren wird, Sophie“, versuchte er, sie wieder auf das ursprüngliche Gesprächsthema zurückzubringen. „Sicher haben sie es akzeptiert. Sie werden Glück im Privaten finden, selbst wenn sie dafür ihr öffentliches Leben aufgeben müssen.“
„Sie sollten beides haben können. Sie haben niemanden verletzt außer einander. Wenn sie sich gegenseitig vergeben und sich noch lieben können, was kann dann irgendjemand dagegen haben?“
Ihr Zorn schwand, und ihr Blick wurde nachdenklich. Charles holte tief Luft. Er hatte diesen Ausdruck oft genug gesehen, um zu wissen, dass Ärger folgen würde.
„Man müsste nur etwas nachhelfen.“
„Nachhelfen?“
„Ja, wenn jemand ihnen Unterstützung entgegenbrächte …“
Charles überlegte. „Du könntest recht haben. Einige von Averys Parteifreunden sind recht einflussreich. Mit ihrer Hilfe könnte er sich da rauswinden.“
„Das hoffe ich.“ Sie seufzte. „Hast du die beiden getroffen?“
„Ich?“ Charles schnaubte. „Ich habe keinen Zweifel, dass mein Gesicht das letzte ist, was sie sehen wollen.“
„Da, glaube ich, liegst du falsch. Lord Avery scheint mir ein sehr ehrenhafter Mann. Es würde beiden sicher besser gehen, wenn sie die Gelegenheit bekämen, sich bei dir zu entschuldigen, könnte ich mir vorstellen. Zumindest könntest du sie wissen lassen, dass du keinen Groll gegen sie hegst. Von dir hätte das wahrscheinlich mehr Gewicht als von irgendjemand anderem.“
Charles schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Er hasste es, wenn sie recht hatte. „Das stimmt zweifellos. Ich werde sie aufsuchen.“
„Gut.“ Nun, da sie sich durchgesetzt hatte, wurde sie wieder geschäftsmäßig. „Ich hoffe, der Rundgang hat dir gefallen und das Haus sagt dir zu.“ Sie wandte sich zum Fenster, als wäre sie sich nicht sicher, was er antworten würde.
„Du weißt, ich finde es wundervoll.“ Wie dich , hatte er hinzufügen
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