Zwölf im Netz
nicht so, als wären die Männer das ganze Jahr mit Jesus umhergewandert; sie kehrten immer wieder nach Hause zurück, besonders dann, wenn sich Jesus für mehrere Tage in die Einsamkeit zurückzog.«
»Ob den Frauen damit viel geholfen war?« bemerkte Poly skeptisch.
» Poly-, da bin ich kein Experte, wie du weißt, und du solltest es eigentlich auch noch nicht sein«, sagte der Alte mit leicht erhobenem Zeigefinger. »Horch lieber mal, was da drüben am anderen Ufer für merkwürdige Schreie ertönen.«
Poly horchte und zuckte die Achseln. »Das klingt wie ein Hilfeschrei, als würde jemand an der Gurgel gepackt. Aber es muß von einem Tier stammen, dort drüben lebt kein Mensch.«
»Und von welchem Tier, Herr Gymnasiast? Lernt ihr das nicht in der Schule?«
»Aristoteles hat bestimmt darüber geschrieben. Wahrscheinlich habe ich die Stunde verpennt. Naturkundelehrer können ja so langweilig sein.«
»Das ist der Schrei der Kraniche, Poly, doch paß auf, er geht bald in fröhliches Schmettern über. Da, hörst du, es klingt wie Trompeten.«
»Wissen Sie auch, warum sie so schreien?«
»Weißt du's denn?«
»Klar, sie sehnen sich nach ihren Weibchen, die sind nämlich nicht unter Verschluß. Oder«, fügte er verschmitzt hinzu, »soll ich Ihnen zuliebe sagen, sie schmettern ihr Abendgebet?«
Das absolute Mädchen
Ein Sommernachmittag in Galiläa.
Jesus hatte sich, erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage, an den Stamm eines Ölbaums gelehnt und ruhte mit geschlossenen Augen. Auf einmal spürte er, daß er beobachtet wurde, und blickte auf. Vor ihm stand ein Mädchen und schaute ihn forschend an. Sie mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre zählen.
»Ich heiße Veronika», sagte das Mädchen.
»Ein schöner Name.«
»Ein griechischer, und ich weiß auch, was er bedeutet: Siegbringerin.«
»Da paßt er gut zu dir«, sagte Jesus.
»Absolut nicht. Bisher war ich immer unterlegen.«
»Wem unterlegen?«
»Deinen Freunden, den von dir so hochgeschätzten Jüngern. Der Name paßt übrigens gut zu ihnen, jünger ist die Steigerung von jung. Sie benehmen sich manchmal absolut kindisch.«
Jesus mußte erst einmal kräftig durchatmen ; so unverblümt sprach selten jemand zu ihm. »Komm, setz dich neben mich«, lud er Veronika ein und rückte etwas zur Seite. »Lieber dir gegenüber«, sagte sie und kauerte sich ins Gras. »Was hast du gegen meine Jünger?«
»Die tun so, als hätten sie deine Freundschaft gepachtet, diese Egoisten. Keinen lassen sie privat an dich heran.«
»Zur Zeit ist niemand da, der dich verscheuchen kann.«
»Ich weiß. Ich sah sie unten am Bach. Sie versuchen ihre Hemden, Hosen und Socken zu waschen.« Über ihr Gesicht huschte ein spöttisches Schmunzeln. »War wohl auch Zeit.«
Jesus lächelte. »Das ist die unvermeidliche Schattenseite einer Männergesellschaft.«
»Nicht die einzige, Rabbi!«
Fin couragiertes Persönchen, dachte Jesus erfreut, weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Entweder ist sie älter als fünfzehn oder gescheiter als ihre Altersgenossinnen. Aufmerksam musterte er ihr helles, offenes Gesicht. »Sind wir uns nicht schon einmal begegnet, Veronika?«
»Einmal? Dreiundzwanzigmal!« gab sie zur Antwort.
Und dann zählte sie auf: »Siebenmal in Synagogen, fünfmal auf Marktplätzen, zweimal auf Bergen, fünfmal am See, dreimal an Gärten und einmal im Wirtshaus.« Mit eigenen Augen gesehen hatte sie mindestens siebzehn Krankenheilungen, drei Dämonenaustreibungen und eine wunderbare Verwandlung. Doch begegnen sei eigentlich nicht das richtige Wort, sagte sie ; jedesmal sei sie eingekeilt in der Menge gestanden, Jesus hätte sie gar nicht wahrnehmen können. Nur ein einziges Mal: auf der Hochzeit in Kana.
»Ja«, sagte Jesus, »da trugst du eine weiße Schürze.«
»Richtig. Ich mußte in der Küche mithelfen, Gläser spülen, Teller abwaschen, Ofenholz nachlegen, Wasser heranschleppen zum Kochen und Reinigen. Wir waren pausenlos in Trab, und vom guten Essen sahen wir nur die unappetitlichen Reste.«
»In der Küche sind wir uns aber nicht begegnet, sondern auf dem Gang vom Saal zum Keller. Ich wollte mit den Schankburschen sprechen...«
»Und da lief ich dir in die Hände, mit einer riesigen Platte voller Krebspasteten. Mein Gesicht war ganz verschwitzt.«
»Verschwitzt? Verweint, wenn ich mich richtig besinne.« Das Mädchen gab es zu. »Stimmt schon, verweint. Die Kaltmamsell hatte mir zwei Ohrfeigen verpaßt, weil ich beim Spülen zwei
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