Zyklus der Erdenkinder 02 - Ayla und das Tal der Pferde
eingezogenen Krallen eine mächtige Tatze über sie. Sie wälzte sich herum, schlang ihm die Arme um den Hals und barg das Gesicht in seiner länger werdenden Mähne.
Als sie sich schließlich ausgeweint hatte und versuchte aufzustehen, fühlte sie die Folgen ihres Sturzes. Aufgerissene Hände, aufgeschürfte Knie und Ellbogen, eine geprellte Hüfte und eine wunde rechte Wange. Sie humpelte zur Höhle. Während sie ihre Schürfwunden und Prellungen behandelte, kam ihr ein ernüchternder Gedanke. Was, wenn ich mir einen Knochen gebrochen hätte? Das wäre schlimmer gewesen als der Tod, wo doch niemand dagewesen wäre, mir zu helfen.
Nur habe ich es nicht getan, dachte sie. Mein Totem will, daß ich am Leben bleibe, vielleicht hat es einen guten Grund dafür. Vielleicht hat der Geist des Höhlenlöwen Baby zu mir geschickt, weil er wußte, daß Winnie mich eines Tages verlassen würde.
Auch Baby wird mich verlassen. Es wird nicht mehr lange dauern, und auch er wird sich paaren wollen. Er wird eine Gefährtin finden, auch wenn er nicht in einem richtigen Rudel aufwächst. Er wird so groß werden, daß er imstande sein wird, ein großes Revier zu verteidigen. Und er ist ein guter Jäger. Hungern wird er nicht müssen, wenn er nach einem Rudel oder zumindest einer Löwin sucht.
Sie verzog den Mund. Man sollte denken, ich wäre eine ClanMutter, die sich Sorgen um ihren halbwüchsigen Sohn macht, der zu einem großen, tapferen Jäger heranwächst. Schließlich ist er nicht mein Sohn. Er ist bloß ein Löwe, ein gewöhnlicher … Nein, ein gewöhnlicher Höhlenlöwe ist er nicht. Er ist schon jetzt fast so groß wie ein voll ausgewachsener Höhlenlöwe, und er hat früh das Jagen gelernt. Aber er wird mich verlassen …
Durc muß inzwischen groß geworden sein. Und Ura wächst gewiß heran. Oda wird traurig sein, wenn Ura sie verläßt, um Durcs Gefährtin zu werden und in Bruns Clan zu leben … Nein, jetzt ist es ja Brouds Clan. Wie lange wird es bis zur nächsten Clansversammlung dauern?
Sie griff nach den kerbengezierten Stäben hinter ihrem Lager. Sie machte immer noch jeden Abend eine Kerbe. Es war eine Gewohnheit, ein Ritual. Sie löste die Schnur um das Bündel und breitete die Stäbe vor sich auf dem Boden aus. Dann versuchte sie die Tage zu zählen, die seit ihrer Ankunft im Tal vergangen waren. Sie legte die Hände über die Kerben, doch es waren zu viele; zu viele Tage waren vergangen. Sie hatte das Gefühl, die Zeichen müßten zusammenkommen und sich zu irgendetwas zusammenfinden, was ihr verriet, wie lange sie hier war, doch wußte sie nicht wie. Dann ging ihr auf, daß sie die Stäbe gar nicht brauchte; sie konnte ja die Jahre zählen, wenn sie überlegte, wie viele Frühlinge inzwischen gekommen und gegangen waren. Durc ist vor der letzten Clansversammlung zur Welt gekommen, dachte sie. Mit dem nächsten Frühling ging sein Geburtsjahr zu Ende. Sie machte ein Zeichen in den Boden. Das nächste war das Jahr, in dem er das Laufen gelernt hatte. Noch ein Zeichen im Boden. Der nächste Frühling bedeutete das Ende des Jahres, da sie ihn voll genährt hatte, das nächste das Jahr der Entwöhnung – nur daß er schon entwöhnt gewesen war. Sie machte ein drittes Zeichen.
Da war sie fortgezogen – sie schluckte und zwinkerte eine Träne fort – und im folgenden Sommer habe ich mein Tal gefunden – und Winnie. Im nächstfolgenden Frühjahr dann Baby. Sie machte ein viertes Zeichen. Und diesen Frühling … Sie mochte sich nicht vorstellen, daß Winnies Fortgang dasjenige sei, woran sie sich bei diesem Jahr erinnerte; nur war das eine Tatsache. Sie machte ein fünftes Zeichen.
Das ist soviel wie die Finger einer Hand – sie hielt die Linke in die Höhe – und so alt ist Durc jetzt. Sie reckte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe. Und so viele sind es noch bis zur nächsten Versammlung. Wenn sie dann wieder zurückkehren, wird Ura bei ihnen sein, für Durc. Natürlich werden sie noch nicht alt genug sein, um sich zu paaren. Aber sie brauchen sie nur anzusehen, und sie wissen, daß sie für Durc bestimmt ist. Ob er sich wohl noch an mich erinnert? Ob er Clans-Erinnerungen hat? Wieviel von ihm ist von mir, und wieviel von Broud … vom Clan?
Ayla nahm die Stäbe mit den Kerben zusammen, und ihr fielen die regelmäßigen Abstände zwischen den besonders großen Kerben auf, die sie immer dann anbrachte, wenn ihr Geist kämpfte und sie blutete. Der Totem-Geist welchen Mannes könnte hier mit dem
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