Zyklus der Erdenkinder 03 - Ayla und die Mammutjäger
hatte.
»Und was geschieht, wenn ein männlicher Geist die Lebenskraft raubt?« fragte Ayla. Die Vorstellungen der Mamutoi, die ähnlich und doch so verschieden waren von den Traditionen des Clan, weckten ihre Neugier.
»Dann hast du einen mächtigen Schamanen«, sagte Tulie.
»Oder einen bösen«, fügte Crozie hinzu.
»Stimmt das, Mamut?« wandte Ayla sich an ihn. Latie sah verwundert und verwirrt aus, und sogar Deegie, Tronie und Fralie wandten sich interessiert Mamut zu.
Der alte Mann sammelte sich und war bemüht, seine Antwort sorgfältig zu formulieren. »Wir sind nur Ihre Kinder«, begann er. »Es fällt uns schwer zu erkennen, warum Mut, die Große Mutter, mit manchen von uns Besonderes vorhat. Wir wissen nur, daß Sie Ihre Gründe hat. Vielleicht gibt es Zeiten, da Sie jemand braucht, der mit besonderer Kraft ausgestattet ist. Manche Menschen sind vielleicht mit bestimmten Gaben geboren. Andere werden vielleicht später auserkoren, aber ohne Ihr Wissen wird keiner erwählt.« Die Augen etlicher wandten sich Ayla zu, waren jedoch bemüht, es nicht zu auffällig zu machen.
»Sie ist Die Mutter von allen«, fuhr er fort. »Keiner kann Sie ganz ergründen, sie in all Ihren Erscheinungsformen erkennen. Das ist der Grund, warum das Gesicht auf den Figuren, die Sie darstellen, fehlt.«
Mamut wandte sich der ältesten Frau des Lagers zu. »Was ist das Böse, Crozie?«
»Das Böse ist, jemand aus Heimtücke Schaden zuzufügen. Das Böse ist der Tod«, erwiderte die alte Frau im Brustton der Überzeugung.
»Die Mutter ist alles, Crozie. Das Antlitz der Mut ist die Geburt des Frühlings, die Fülle des Sommers, aber auch der kleine Tod des Winters. Die Lebenskraft ist ein Gesicht von Ihr, doch das andere Gesicht des Lebens ist der Tod. Was ist der Tod anderes als die Rückkehr zu Ihr, um wiedergeboren zu werden? Ist der Tod das Böse? Ohne Tod gibt es kein Leben. Ist es das Böse, jemand heimtückisch Schaden zuzufügen? Vielleicht, doch selbst diejenigen, die das Böse zu wirken scheinen, tun das aus Gründen, die Sie vorgibt. Das Böse ist eine Kraft, die Sie beherrscht, ein Mittel, Ihre Ziele zu erreichen; das Böse stellt nur das unbekannte Antlitz Der Mutter dar.«
»Aber was geschieht, wenn eine männliche Kraft die Lebenskraft einer Frau raubt?« fragte Latie. Ihr ging es nicht um Philosophie, sie wollte es nur wissen.
Zweifelnd sah Mamut sie an. Sie war fast eine Frau, sie hatte ein Recht darauf, es zu erfahren. »Dann stirbt sie, Latie.«
Ein Schauder durchlief das Mädchen.
»Aber auch, wenn sie geraubt wird. Vielleicht bleibt doch etwas zurück, genug für sie, ein neues Leben entstehen zu lassen. Die Lebenskraft, die in einer Frau wohnt, ist so mächtig, daß sie möglicherweise nicht merkt, daß sie ihr geraubt wurde, bis sie neues Leben gebiert. Stirbt eine Frau bei der Geburt, liegt das unweigerlich daran, daß ihr die Lebenskraft von einem männlichen Geist geraubt wurde, bevor sie geöffnet wurde. Deshalb ist es nicht gesund, allzu lange bis zur Feier des Frauentums zu warten. Hätte die Mutter dich schon letzten Herbst bereitgemacht, hätte ich mit Nezzie darüber gesprochen, ob nicht ein paar Lager zusammenkommen sollten, um eine Zeremonie zu feiern, damit du nicht ungeschützt durch den Winter hindurch müßtest, selbst wenn das bedeutet, daß dir dann die aufregende Feier anläßlich des Sommer-Treffens entgangen wäre.«
»Bin ich froh, daß sie mir nicht entgeht, aber …« Latie machte eine Pause. Die Lebenskraft beschäftigte sie im Moment immer noch mehr als die Feier. »Stirbt eine Frau denn immer?«
»Nein, manchmal kämpft sie, um ihre Lebenskraft zu behalten, und falls diese sehr stark ist, kann es sein, daß sie sie nicht nur behält, sondern die männliche Kraft noch dazugewinnt, oder zumindest einen Teil davon. Dann trägt sie die Kraft beider im Leib.«
»Das sind Frauen, die mächtige Schamaninnen werden«, ergänzte Tulie.
Mamut nickte. »Das trifft häufig zu. Um zu lernen, sowohl mit der männlichen als auch mit der weiblichen Kraft umzugehen, wenden sich viele zwecks Lenkung an das Herdfeuer des Mammut, und viele davon sind berufen, Ihr Zu Dienen. Nicht selten sind sie vorzügliche Heilkundige oder Reisende in der Unterwelt Der Mutter.«
»Und was ist mit dem männlichen Geist, der die Lebenskraft raubt?« fragte Fralie, legte sich ihr neues Baby über die Schulter und klopfte es sanft. Sie wußte, daß das eine Frage war, die ihre Mutter gern gestellt hätte.
»Der ist das
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