Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
saßen, sie noch verstanden, verlieh ihrer ohnehin tiefen Stimme einen noch tieferen Klang und sprach laut und fest in die dunkle Stille, in der jetzt nur noch ein Feuer brannte. Ihre Stimme war der einzige Laut, den die Menschen jetzt hörten. Er schien auf den Schlägen der Trommeln durch die Luft zu ihnen zu dringen.
Ayla sprach die letzte Strophe des Liedes von der Mutter und wiederholte die Worte, welche die Trommel gesprochen hatte.
Die Mutter ist zufrieden mit Frau und Mann. Sie hat gegeben, was sie geben kann. Hat sie fühlen, lieben und sorgen gelehrt, Ihnen die Gabe der Wonnen beschert.
Die Kinder haben die Lebensgaben.
Der Trommelschlag wurde fast unmerklich langsamer. Alle wussten, das war das Ende, nur noch eine Zeile folgte, die jedoch irgendwie hinausgezögert wurde. Das machte alle nervös, die Spannung stieg. Und als die Trommeln schließlich das Ende der Strophe erreichten, verstummten sie nicht, sondern fuhren mit unbekannten Worten fort.
Aals lee-tze-te Gaa-be diiiie Keeeenntnisss ...
Die Zuhörer lauschten angestrengt, wussten aber immer noch nicht genau, was sie da hörten. Dann wiederholte Ayla die Strophe allein, langsam und kraftvoll.
Als letzte Gabe die Kenntnis, ihre Kinder zu lehren, Des Mannes Saft bedarf es, um das Leben zu mehren. Es ehrt die Mutter, teilt ein Paar die Wonnen, Dann wird in der Frau neues Leben begonnen.
Zufrieden nun, kann die Mutter ruhn.
Das gehörte nicht dazu. Das war neu! Den Teil hatten sie noch nie gehört. Was hatte er zu bedeuten? Unbehagen machte sich breit. Schon immer, länger noch als irgendjemand zurückdenken konnte, war das Lied von der Mutter bis auf unwesentliche Abweichungen gleich geblieben. Warum war es jetzt auf einmal anders? Der Sinn des Textes war noch nicht zu ihnen durchgedrungen. Dass neue Worte hinzugekommen waren, dass sich das Lied von der Mutter verändert hatte, war verstörend genug.
Plötzlich erlosch das letzte Feuer. Es war so dunkel, dass niemand sich zu regen wagte. »Was bedeutet das?«, rief jemand. »Ja, was bedeutet das?«, wiederholte eine Stimme aus einer anderen Richtung.
Jondalar aber fragte nicht. Er wusste es. Dann stimmt es also, dachte er. Alles, was Ayla immer gesagt hat, stimmt. Obwohl er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken, bereitete es auch ihm Mühe zu begreifen, was dieses Wissen tatsächlich bedeutete. Ayla hatte immer gesagt, Jonayla sei seine Tochter, die Tochter seines Fleisches und nicht nur seines Geistes. Sie war durch sein Dazutun entstanden. Kein flüchtiger Geist, den er nicht sehen konnte und den die Mutter irgendwie in Aylas Körper mit deren Geist vermischte. Er, Jondalar, hatte es gemacht. Er und Ayla, sie beide zusammen. Mit seiner Männlichkeit hatte er Ayla seinen Lebenssaft gegeben, und der hatte sich in Ayla mit etwas vermischt und neues Leben entstehen lassen.
Nicht jedes Mal. Er hatte sehr viel Lebenssaft in sie abgegeben. Vielleicht musste das so sein. Ayla hatte immer gesagt, sie wisse nicht genau, wie es gehe, nur dass erst ein Mann und eine Frau zusammen neues Leben beginnen ließen. Die Große Mutter hatte ihren Kindern die Gabe der Wonnen geschenkt, damit Leben begann. Und sollte es denn keine Wonne sein, neues Leben beginnen zu lassen? War das der Grund, weshalb bei ihm der Drang, seinen Lebenssaft in eine Frau zu geben, so stark war? Weil die Mutter sich wünschte, dass ihre Kinder eigene Kinder entstehen ließen?
Jondalar hatte das Gefühl, als habe sein Körper einen neuen Sinn bekommen, als wäre er auf eine ganz besondere Art lebendig geworden. Männer waren notwendig. Er war notwendig! Ohne ihn würde es Jonayla nicht geben. Wäre es ein anderer Mann gewesen, wäre sie nicht Jonayla. Der Mensch, der sie war, war sie ebenso wegen Ayla wie seinetwegen. Ohne Männer gab es kein neues Leben.
Am Rande der Versammlung wurden Fackeln entzündet. Langsam erhoben sich die Zuschauer und liefen herum. Von den Tellern und Schalen voll Essen wurden die Abdeckungen entfernt, dann wurden die Speisen in verschiedenen Bereichen aufgebaut. Damit niemand allzu lange darauf warten musste, hatte jede Höhle oder jede Gruppe verwandter Höhlen einen eigenen Platz zum Feiern. Mit Ausnahme der Kinder hatte kaum jemand tagsüber richtig gegessen. Einige waren zu beschäftigt gewesen, andere wollten ihren Hunger für das Festmahl aufbewahren. Obwohl es nicht verlangt war, hielt man es für angemessen, sich an Festtagen vor der großen Mahlzeit beim Essen zurückzuhalten.
Auf dem Weg zum
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