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Titel: Kostenlos Bücher Online Lesen
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Ursprünglich wurden sie gepflanzt, um Schutz zu spenden. Mein Großvater dachte, der Baum wäre auf die Geleise gestürzt. Er war so besorgt, daß er den Fahrplan vergaß, obwohl er gewöhnlich jeden Zug im Kopf hatte. Sie können sich denken, was dann geschah. Der Lärm des herannahenden Zuges wurde vom Wind verschluckt. Das kam jedenfalls bei der Untersuchung heraus.«
    Wenn ein vergleichsweise Fremder eine derartige Geschichte erzählt, weiß man nie genau, was man sagen soll; man ist versucht, die Leere mit irgendeiner belanglosen Frage auszufüllen.
    »Und lag der Baum auf den Geleisen?« fragte Margaret.
    »Nein. Kein Baum war umgefallen. Der Alte hatte sich geirrt.«
    »Dann wurde die Untersuchung ziemlich nachlässig durchgeführt?«
    »Man hatte immer damit gerechnet, daß es mit Wide Joe böse enden würde, und der Ausschuß bestand nur aus hiesigen Männern. Er war allgemein unbeliebt. Er brachte seine Tochter dazu, ihre Verlobung mit einem Eisenbahner aus Pudley zu lösen; in eine niedrigere Klasse einheiraten undsoweiter. Doch es stellte sich heraus, daß er sich ein bißchen geirrt hatte. Der Mann kam ins Parlament, und es ging ihm am Ende deutlich besser als meinem Großvater, der bei der Eisenbahn blieb. Zu dem Zeitpunkt war es natürlich zu spät. Und mein Großvater war ohnehin schon tot.«
    »Das war Ihre Tante?« erkundigte sich Mimi.
    »Die Schwester meines Vaters, ja«, entgegnete Roper. »Wechseln wir das Thema. Erzählen Sie mir vom lustigen Londoner Leben.«
    »Das ist nichts für uns«, sagte Mimi. »Für uns Mädchen gibt es nur einen langweiligen Tag nach dem anderen.«
    Der Moment schien Margaret günstig, ihren Pullover zu holen, da ihr immer noch kalt war. Sie ging nach oben. Einerseits wäre sie froh gewesen, nach dem anstrengenden Tag zu Bett gehen zu können, doch empfand sie zugleich einen unerklärlichen, kaum halbbewußten Widerwillen, Mimi und Roper so vertraulich plaudernd alleine zu lassen. Doch als sie die düstere Treppe mit ihrem massigen, unansehnlichen, polierten Geländer aus dunklem Holz hinaufstieg, erlitt sie einen Schock, der ihre Schläfrigkeit zeitweilig verjagte.
    Der Vorfall war unbedeutend und vollkommen erklärlich. Es war zweifellos die tote Düsternis des Hauses, der ihn für Margaret so erschreckend machte. Als sie den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht hatte, sah sie eine Gestalt, die rasch vor ihr zurückzuweichen schien und durch eine der großen, holzgetäfelten Türen schlüpfte. Der Eindruck von Verstohlenheit hätte allein auf die ausgesprochen dürftige Beleuchtung zurückgeführt werden können. Doch was das Öffnen und Schließen der Tür betraf, ließen Margarets Ohren keinen Zweifel zu. Und auch über einen zweiten Punkt vergewisserte sie das weit weniger verläßliche Zeugnis ihrer Augen: die zurückweichenden Füße verursachten ein klickendes Geräusch; die halb sichtbare Gestalt war zweifellos die einer Frau gewesen. Sie schien einen dunklen Mantel und Rock zu tragen, der ihre helleren Beine deutlich hervortreten ließ.
    Sinnlose Ängste niedertretend, die jenseits aller Erklärbarkeit lagen, stieg Margaret die zweite Treppe hinauf und betrat das Schlafzimmer. Immerhin konnte es ja sein, daß Beech den Haushalt nicht allein besorgte; höchstwahrscheinlich bestand Ropers Dienerschaft aus einem Ehepaar. Margaret setzte sich auf einen der harten Stühle, die Beech gebracht hatte, und nahm ihre Angst genauer in Augenschein. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie Gestalt an: eine gesichtslose Wachsfigur, daran ein Schild, ›Miss Roper‹, wahnsinnig, tot, auf schreckliche Weise zurückgekehrt. Die Kleidung der Gestalt, die Margaret gesehen hatte, war nicht die der tragischen Viktorianerin aus Wendley Ropers Erzählung, doch andererseits war Miss Roper erst vor kurzem gestorben und könnte in dieser Hinsicht mit der Zeit gegangen sein, wie es immer mehr alte Damen tun. Das wäre allerdings weniger wahrscheinlich, wenn sie wirklich wahnsinnig gewesen wäre, wie Mimi annahm und wie es die Geschichte der geplatzten Verlobung unumstößlich verlangt haben würde, hätte sie einer der vielen Romanciers der Epoche erzählt. Das Zimmer, in dem Margaret sich befand, hatte alles gesehen. Als ihr diese Tatsache wieder in den Sinn kam, schienen sich auf einmal die rußigen, schäbig tapezierten Wände von allen Seiten auf sie zuzubewegen; die ganze lange und schmale Mansarde wollte sich bedrohlich über ihr zusammenziehen. Obwohl er weitaus größer war,

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