0022 - Der Todesfluß
hören.
Unvermittelt erscholl vom Dorf her die Glocke der Turmuhr.
Dumpf hallten die Schläge in monotonem Rhythmus. Luftfeuchtigkeit und Wind trugen den Klang bis weit über die Rhône hinweg.
Mitternacht.
Professor Zamorra spähte aus schmalen Augen in alle Richtungen.
Aber noch immer war nichts zu sehen. Dennoch bestärkte sich seine unbestimmte Ahnung, die ihn geweckt und in die Nacht hinausgetrieben hatte.
Er betrat die Fähre, wußte noch nicht, weshalb. Er faßte diesen Entschluß, ohne sich selbst eine Begründung dafür geben zu können. Die mächtigen Holzplanken waren feucht und glitschig. Das schwere Wasserfahrzeug dümpelte kaum merklich im leichten Wellengang.
Zamorra lehnte sich an das stählerne Geländer an der Steuerbordseite. Der Wind trieb feuchte Schwaden in sein Gesicht, Wolken winziger Wassertröpfchen, die von der Oberfläche der Fluten hochgewirbelt wurden.
Die Glockenschläge der Turmuhr waren verklungen.
Plötzlich hörte Zamorra die Stimme.
»Ich komme! Ja, ich komme doch schon!«
Atemzüge später tauchte die dunkle Silhouette eines Mannes über dem Rand der Uferböschung auf. Der Mann hastete mit langen Sätzen auf die Fähre zu. Sein Atem ging keuchend.
Zamorras Muskeln spannten sich. Er kannte die Statur des Mannes, glaubte auch, Strähnen leuchtend roten Haares unter seiner Mütze hervorlugen zu sehen.
Philippe Manoir.
Hart polterten seine Schritte auf die Planken der Fähre.
»Ich komme!« brüllte er wieder. »Nur noch ein paar Minuten!«
Er wollte die Leinen losmachen. Im gleichen Moment zuckte er zusammen, als er den Professor auf sich zukommen hörte.
»Hölle und Teufel!« fluchte Manoir. »Wer sind Sie? Was fällt Ihnen ein, unerlaubt auf meiner Fähre…«
»Ihre Augen sind nicht die besten, Monsieur Manoir«, unterbrach ihn Zamorra, »haben Sie mich erst jetzt bemerkt?«
»Verschwinden Sie!« zischte Manoir. »Sie haben behauptet, sich nicht einmischen zu wollen. Und was tun Sie jetzt?«
»Ich versuche, Sie vor dem Unheil zu bewahren.«
»Unheil!« Manoir lachte seltsam schrill. »Ich muß jemanden übersetzen, Mann. Der arme Kerl wartet drüben auf der anderen Seite.«
Zamorra wandte nur kurz den Kopf.
»Ich sehe niemanden«, stellte er fest, »wenn Sie mich nicht einmal aus unmittelbarer Nähe erkannt haben, kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie am anderen Ufer jemanden sehen.«
Manoir stieß einen wütenden Knurrlaut aus.
»Zum letzten Mal, Professor! Verschwinden Sie! Hindern Sie mich nicht an meiner Arbeit. Ich muß meine Pflicht tun.«
»Sie werden nicht übersetzen«, sagte Zamorra ruhig.
»Zum Teufel mit Ihnen!« schrie Manoir. Deutlich war zu erkennen, wie sich seine Haltung versteifte. Er ballte die Fäuste.
»Haben Sie Ihr Kruzifix bei sich?« Zamorra hielt den Atem an nach dieser Frage. Er wußte, daß er damit eine höllische Reaktion hervorrufen konnte. Und er täuschte sich nicht.
Philippe Manoir stürzte sich mit zornigem Fauchen auf ihn, schnellte ohne erkennbaren Ansatz los.
Dennoch war Zamorra auf der Hut. Seine Muskeln, durchtrainiert bis in die letzte Faser, explodierten.
Mit einem blitzartigen Sidestep ließ er den Rothaarigen leerlaufen.
Aber noch aus der Bewegung heraus packte Zamorra zu, ehe sich Manoir am Stahlgeländer den Schädel einrammen konnte.
Die Fäuste des Angreifers zischten ins Leere, während Zamorra ihn an der linken Schulter zu fassen bekam und ihn herumriß.
Manoir wankte rückwärts, drehte sich dabei wie ein torkelnder Kreisel. Er stieß einen Wutschrei aus, der mit einem menschlichen Laut nichts mehr gemein hatte.
Doch Zamorra setzte sofort nach. Mit einem einzigen Satz überbrückte er die Distanz, die sich zwischen ihm und Manoir gebildet hatte.
Eine brettharte Gerade ließ den irren Schrei des Rothaarigen abbrechen. Die Wucht des Hiebes schleuderte ihn nach hinten.
Er verlor das Gleichgewicht, segelte mit haltsuchend rudernden Armen über die Decksplanken. Im nächsten Atemzug schlug er hart auf den Rücken. Ein ächzender Schmerzenslaut ertönte.
Zamorra wußte, daß er Manoir um jeden Preis davon abbringen mußte, die Fähre in Gang zu setzen. Denn der Mann war besessen, hatte die Gewalt über seine eigenen Sinne verloren. Und in diesem Moment erkannte der Professor zweifelsfrei, wie Robert Levin ums Leben gekommen sein mußte. Manoir hatte geglaubt, den Mächten der Finsternis trotzen zu können. Doch nun stand er ebenso hilflos in ihrem Bann wie sein Vorgänger.
Mit angestrengtem
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