0040 - Die Ameisen greifen an
eine wattierte Bergsteigerjacke. Kopfschüttelnd meinte er: »Es ist jedes Jahr so. Die Leute spielen auf einmal verrückt. Benehmen sich wie die kleinen Kinder. Die Frauen eingeschlossen.«
Ich lachte. »Wem sagen Sie das, Herr Krämer. Mir wollte sich auch so eine Hotelschönheit an den Hals werfen. Ich habe sie aber abblitzen lassen.«
Herr Krämer lachte. »Ja, ich kenne die Frau. Sie ist Stammgast bei uns. Sie heißt Gräfin von Kanderheide und ist angeblich mit was weiß ich für tollen Leuten verwandt oder bekannt. Wenn sie zuviel getrunken hat, wird sie meist albern.«
»Sehr albern«, präzisierte ich.
Herr Krämer lachte. »Sie entschuldigen mich. Ich muß wieder nach hinten und mich mal um die anderen kümmern.«
»Eine Frage noch. Welchen Weg nehmen wir eigentlich?«
»Erst einmal geradeaus. Wir bleiben an diesem Bergrücken. Die abgesteckte Strecke windet sich daran entlang. Unser Ziel ist eine Art Unterstand. Dort wartet heißer Tee mit Rum auf die müden Wanderer.«
Es ließ sich gut laufen. Die Schneedecke war ziemlich festgetreten, und es gab auch kaum Eisbuckel, über die wir hätten ausrutschen können. Wir gingen etwas schneller und lösten uns von der Gruppe. Falls wir die Ameisen tatsächlich entdeckten, sollten sie sich erst einmal auf uns konzentrieren.
Wenn wir die Köpfe nach rechts drehten, so lag unter uns Grindelwald. Es war wirklich ein Postkartenbild. Tief verschneit war der Ort. Die zahlreichen Lichter glitzerten wie Sterne. Dazwischen leuchteten die elektrischen Kerzen der Weihnachtsbäume, auch zahlreiche an den Hängen liegende Häuser waren angestrahlt.
Vom Grand Hotel Alpina konnten wir auf die anderen Hotels hinunterblicken.
Suko trug den Rucksack mit seiner brisanten Ladung. Er ging zwei Schritte vor und leuchtete mit seiner Lampe nach rechts, während ich mir die linke Seite vornahm. Der Strahl tanzte über den Schnee, der an der Oberfläche zu Millionen von Eiskristallen gefroren war. Schließlich wurde das Licht von der Dunkelheit absorbiert.
Unser Hotel lag bereits weit zurück. Die Einsamkeit der Bergwelt hatte uns aufgenommen. Auch die anfangs aufgekommene Hysterie hatte sich etwas gelegt. Der Marsch war kein Spaziergang.
Die Menschenschlange hatte sich auseinandergezogen. Das war immer so. Ob beim Wandertag der Schulen oder bei einem Spaziergang.
Ich dachte an die Camper. Sie waren von den Riesenameisen überfallen worden und hatten keine Chance gehabt.
Aber hatten wir eine Chance?
Ich hoffte es stark.
Immer wieder ließen Suko und ich die Lichtlanzen kreisen. Sie rissen breite, helle Schneisen in das Dunkel der Nacht, geisterte über Felsbuckel und schroffes Gestein. Aber die verdammten Viecher entdeckten wir nicht.
Ich leuchtete nach links hoch, duckte mich dabei ein wenig – und zuckte plötzlich zusammen.
Neben einem Felsen sah ich die Bewegung!
»Suko!« zischte ich. »Leuchte!«
Die konzentrierte Blendkraft der beiden Lampen kreiste den Felsen und dessen nähere Umgebung ein.
Da sahen wir die Ameise!
Sie hatten uns die Vorderfront zugewandt. Deutlich konnten wir die beiden roten Punkte erkennen, die direkt auf uns gerichtet zu sein schienen.
»Halt die Molotowcocktails bereit!« rief ich Suko zu.
Mein chinesischer Partner schwang seinen Rucksack vom Rücken, während ich den Weg verließ, und mich daranmachte, den Hang zu erklettern, um direkt auf das Rieseninsekt zuzulaufen.
Sofort sank ich fast bis zu den Knien im Schnee ein. Suko stand noch auf dem Weg. Seine Lampe blitzte dreimal kurz hintereinander auf. Dann schwenkte er sie im Kreis.
Es war das verabredete Zeichen für Herrn Krämer. Er sollte mit den Gästen auf keinen Fall weitergehen, sondern darauf warten, bis wir uns wieder meldeten.
Es war verdammt mühsam, sich durch den Schnee zu wühlen. Doch ich biß die Zähne zusammen, ging manchmal auf Händen und Füßen und ließ dabei nie das Monster aus den Augen.
Noch hatte es sich nicht von der Stelle gerührt.
Die Entscheidung stand dicht bevor. Der ewige Kampf zwischen Mensch und Monster. Schon in der Antike beschrieben und oft als Grundlage für Sagen und Legenden genommen.
Hier erlebte ich es am eigenen Leib.
Ich warf einen Blick über meine Schulter zurück und sah Suko, der in meinen Trittspuren folgte. Der Strahl seiner Lampe leuchtete an mir vorbei auf den Felsen.
Die Ameise mußte uns längst bemerkt haben, sie verhielt sich jedoch bisher passiv.
Ein schneller Blick nach links. Die Hotelgäste hatten angehalten. Ich
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