005 - Die Melodie des Todes
Ironie, »du tust mir sehr leid, du hast dich weder mit einem Mann noch mit Geld versorgt!«
Sie blickte rasch zu ihm auf.
»Noch Geld?« wiederholte sie.
Nur Interesse las er in ihren Augen, keine Spur von Enttäuschung. Er kannte die Wahrheit besser, als es von ihr dargestellt worden war: Nicht sie war es, die eine gute Partie hatte machen wollen, sondern ihre Mutter, diese herrschsüchtige alte Frau.
»Kein Mann und kein Geld«, wiederholte er schneidend. »Und noch schlimmer als das« - mit zwei raschen Schritten war er an dem Tisch, der sie trennte, und sich schwer darauf stützend, beugte er sich vor -, »nicht nur hast du keinen Ehemann, und nicht nur ist kein Geld da, sondern -«
Er unterbrach sich, wie von einem Schuß getroffen.
Das Mädchen sah, wie sich sein Gesicht verzerrte und grau wurde … Sie erhob sich rasch.
»Was ist dir, was ist dir?« flüsterte sie bestürzt.
»Mein Gott!«
Seine Stimme klang gebrochen, wie die eines Mannes in tödlichem Schreck. Sie lauschte - von irgendwo unter dem Fenster drangen sanfte, schwermütige Geigentöne herauf. Die Weise stieg und fiel, seufzte und zitterte unter der Zauberhand des Spielers. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Auf der Straße spielte ein Mädchen, dessen auffallende Schönheit durch ihre ärmliche Kleidung nicht beeinträchtigt wurde. Das Licht einer Straßenlampe fiel auf ihr bleiches Gesicht; ihre Augen waren auf das Fenster gerichtet, an dem Gilbert stand.
Edith blickte auf ihren Mann. Fieber schüttelte ihn.
»Die Melodie in F-Dur«, flüsterte er. »Mein Gott! Die Melodie in F-Dur - und an meinem Hochzeitstag!«
5
Eine Gruppe von drei Männern, darunter Leslie Frankfort, stand im Privatkontor der Firma Warrell & Bird vor einem hohen Geldschrank. Es gab da allerhand Interessantes und Beachtenswertes zu sehen; auf dem Boden lagen Werkzeuge aller möglichen Formen und Sorten umher.
Der Schrank selbst wies deutliche Spuren einer gewaltsamen Öffnung auf. Über dem Schloß war ein Halbkreis von Löchern in die Stahltür gebrannt.
»Sie haben es mit einem Knallgasgebläse gemacht«, sagte einer der Männer.
Er deutete auf eine Anzahl von Stahlröhren, die unter den übrigen Diebes Werkzeugen am Boden lagen.
»Gründliche Arbeit; ich möchte nur wissen, was sie gestört hat.«
Der älteste der Herren schüttelte den Kopf.
»Ich nehme an, der Nachtwächter ist ihnen dazwischengekommen«, sagte er. »Was glauben Sie, Frankfort?«
»Ich kann mich noch gar nicht über ihre Geschicklichkeit beruhigen«, erwiderte Leslie. »Die Werkzeuge, die die Kerle benutzt haben, müssen allein zweihundert Pfund wert sein.«
Er wies auf die Ausrüstung am Boden. Der Detektiv folgte mit seinen Blicken dem ausgestreckten Finger und lächelte.
»Ja«, sagte er gelassen, »diese Leute verstehen ihr Handwerk. Sie haben nichts verloren, sagen Sie?«
»Ja und nein«, entgegnete Mr. Warrell vorsichtig. »Es war da ein Diamantenhalsband, das vorige Woche von einem unsrer Kunden hinterlegt wurde - das ist fort. Ich möchte aber, daß über diesen Verlust zunächst nichts in die Öffentlichkeit dringt.«
Der Detektiv blickte ihn erstaunt an.
»Das ist ein ziemlich sonderbares Verlangen«, sagte er lächelnd. »Es ist sonst nicht üblich, daß im Büro eines Börsenmaklers Diamantenhalsbänder aufbewahrt werden - falls ich mir erlauben darf, diese kritische Bemerkung zu machen.«
Auch Mr. Warrell lächelte.
»Es ist allerdings nicht üblich«, erklärte er, »aber einer unsrer Kunden, der vorige Woche ins Ausland verreiste, kam gerade zwanzig Minuten vor Abgang seines Zuges zu uns und bat uns, das Juwelenetui in unsere Obhut zu nehmen.«
Herr Warrell sagte dies leichthin. Er wollte dem Detektiv nicht verraten, daß der Schmuck als Sicherheit für einen sehr großen Fehlbetrag galt, den eine Kundin schuldete; auch hielt er die Erklärung nicht für nötig, daß er die Juwelen in der Hoffnung in seinem Büro verwahrt hatte, die Kundin sei nur in vorübergehender Geldverlegenheit und werde sie bald wieder auslösen können.
»Wußte außer Ihnen und Ihren Teilhabern irgend jemand, daß sie sich hier befanden?«
Warrell schüttelte den Kopf.
»Ich denke nicht. Ich habe es nie irgend jemandem gegenüber erwähnt. Sie vielleicht, Leslie?«
Leslie zögerte.
»Nun, ich kann nicht umhin, zuzugeben, daß ich es tat«, bekannte er. »Allerdings war es jemand, der es nicht weitererzählen würde.«
»Wer war es?« fragte Warrell.
»Gilbert Standerton.
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