01_Der Fall Jane Eyre
keinen sonderlich erfreuten Eindruck.
- 52 -
»Verdammt, was machen Sie da?«
»Unsere Zielperson beschatten.«
»Kommt nicht in Frage. Wo ist Buckett?«
»Nach Hause gegangen.«
»Das kann ich ihm nicht verdenken. Sind die Kollegen von SO-14
unterwegs?«
Ich nickte. Er blickte an dem dunklen Haus empor, dann sah er mich
an. » Scheiße. Na gut, bleiben Sie hinter mir und halten Sie die Augen
auf. Erst schießen, dann fragen. Alles unter acht …«
»… steht über dem Gesetz. Ich weiß.«
»Gut.«
Tamworth zog seine Waffe, und vorsichtig betraten wir das
umgebaute Lagerhaus. Styx’ Wohnung lag im siebten Stock. Mit
etwas Glück konnten wir die beiden vielleicht überrumpeln.
- 53 -
5.
… die Großen läßt man laufen
… Insofern hatte es vielleicht sogar sein Gutes, daß sie
vier Wochen bewußtlos gewesen ist. Sie verpaßte
sämtliche Nachwirkungen, die SO-1-Untersuchung, die
Vorwürfe und Unterstellungen, die Beisetzung von
Snood und Tamworth. Alles war an ihr vorbeigegangen
… alles, nur die Schuld nicht. Die erwartete sie, als sie
die Augen aufschlug …
MILLON DE FLOSS
- Thursday Next. Eine Biographie
Ich versuchte, mich auf die Neonröhre an der Decke zu
konzentrieren. Es war mir klar, daß etwas passiert war, doch bis auf
weiteres waren sämtliche Erinnerungen an den Tag, an dem Tamworth
und ich uns Acheron Hades hatten vornehmen wollen, aus meinem
Gedächtnis getilgt. Ich runzelte angestrengt die Stirn, hatte aber nur
bruchstückhafte Bilder im Kopf. Ich wußte noch, daß ich dreimal auf
eine alte Dame geschossen hatte und eine Feuerleiter hinuntergerannt
war. Und ich glaubte, mich entsinnen zu können, daß ich auf meinen
eigenen Wagen gefeuert und mich eine Kugel in den Arm getroffen
hatte. Ich betrachtete meinen Arm, und tatsächlich, er war mit einem
weißen Verband umwickelt. Da fiel mir ein, daß ich noch eine zweite
Kugel abbekommen hatte – in die Brust. Ich atmete mehrmals ein und
aus und stellte erleichtert fest, daß kein Rasseln oder Schnarren zu
hören war. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer und sagte
lächelnd ein paar Sätze, die ich nicht verstand. Merkwürdig, dachte
ich, und sank von neuem in tiefen, erholsamen Schlaf.
Als ich das nächste Mal erwachte, war es Abend und kälter als
zuvor. Ich lag allein in einem Achtbettzimmer. Überall standen
Blumen und Karten, und vor der Tür schob ein bewaffneter
Polizeibeamter in Uniform Wache. Mit einem Mal öffnete mein
- 54 -
Unterbewußtsein seine Schleusen, und die Erinnerung an jenen Abend
kehrte auf einen Schlag zurück. Ich kämpfte mit aller Macht dagegen
an, hätte jedoch ebensogut versuchen können, mich gegen eine Flut zu
stemmen. Und mit der Erinnerung kamen die Tränen.
Nach einer Woche war ich so weit wiederhergestellt, daß ich
aufstehen konnte. Paige und Boswell hatten vorbeigeschaut, und
meine Mutter war eigens aus Swindon angereist, um mich zu
besuchen. Zum Leidwesen meines Vaters hatte sie das Schlafzimmer
tatsächlich mauve gestrichen – und gab nun mir die Schuld dafür. Ich
versuchte gar nicht erst, das Mißverständnis aufzuklären. Obwohl ich
mich über ihre Anteilnahme freute, war ich in Gedanken woanders:
Die Sache war ein gigantischer Reinfall gewesen, und irgend jemand
mußte dafür geradestehen; und als einzige Überlebende der
Katastrophe war ich die bei weitem aussichtsreichste Kandidatin.
Im Krankenhaus wurde ein provisorischer Verhörraum eingerichtet,
und herein spazierte Tamworths früherer Chef, ein Mann namens
Flanker, dem ich nie begegnet war und der nicht einen Funken Humor
und Wärme im Leib hatte. Er brachte ein Doppelcassettendeck sowie
mehrere ranghohe SO-1-Beamte mit, die es nicht für nötig hielten,
sich vorzustellen. Ich gab freimütig Auskunft, so emotionslos und
gewissenhaft wie möglich. Zwar wußten die Behörden über Acherons
seltsame Fähigkeiten durchaus Bescheid, dennoch wollte mir Flanker
nicht glauben.
»Ich habe Tamworths Akte über Hades gelesen. Eine ziemlich
bizarre Lektüre, Miss Next«, sagte er. »Tamworth war ein
eigenwilliger Bursche. SO-5 war sein ein und alles; Hades war für ihn
kein Fall, sondern eine fixe Idee. Laut unseren Erkenntnissen hat er
grundlegende SpecOps-Vorschriften wiederholt mißachtet. Anders als
gemeinhin angenommen, sind wir gegenüber dem Parlament nämlich
durchaus zur Rechenschaft verpflichtet, wenn auch auf sehr diskrete
Art und Weise.«
Er hielt einen Moment inne und
Weitere Kostenlose Bücher