01 - Gnadenlos
Territorialrechte vor diesem oder jenem zerbrochenen Fenster, doch trotz aller Streitigkeiten würden die Verhältnisse sich bald stabilisieren, und die Geschäfte würden laufen, weil Konkurrenz schließlich das Geschäft belebt.
Er bog nach rechts in eine neue Straße ein. Der Gedanke rief ein leises Grunzen und ein dünnes, ironisches Lächeln hervor. Neue Straße? Nein, diese Straßen waren alt, so alt, daß die »guten« Leute sie vor Jahren verlassen hatten, um aus der Stadt in grünere Gegenden zu ziehen, womit sie anderen Leuten, die sie für weniger achtbar hielten, den Zuzug ermöglichten. Dann hatten auch die wegziehen müssen, und dieser Kreislauf hatte sich einige Generationen lang immer wiederholt, bis eines Tages alles schiefgelaufen war und die Gegend den desolaten Zustand erreicht hatte, den er nun hier sah. Er hatte etwa eine Stunde gebraucht, um überhaupt zu begreifen, daß es hier Menschen gab, nicht bloß müllübersäte Gehsteige und Kriminelle. Er sah eine Frau, die sich mit ihrem Kind an der Hand von einer Bushaltestelle entfernte, und fragte sich, woher die beiden wohl heimkehrten. Von einem Besuch bei der Tante? Aus der öffentlichen Bibliothek? Von irgendeinem Ort jedenfalls, dessen Vorzüge den ungemütlichen Weg von der Bushaltestelle nach Hause aufwogen, vorbei an Anblicken, Geräuschen und Leuten, deren bloße Existenz dem kleinen Kind Schaden zufügen konnte.
Kellys Rücken straffte sich, und seine Augen zogen sich zusammen. Das hatte er schon einmal gesehen. Selbst in Vietnam, einem Land, das sich schon vor seiner Geburt im Kriegszustand befunden hatte, gab es noch Eltern und Kinder und - selbst im Krieg - ein verzweifeltes Bemühen um Normalität. Kinder brauchten Zeit, um zu spielen, um umarmt und geliebt, vor den rauheren Seiten der Wirklichkeit beschützt zu werden, solange der Mut und die Fähigkeiten ihrer Eltern dies ermöglichen konnten. Auch hier war das so. Überall gab es Opfer, alle mehr oder weniger unschuldig, aber die Kinder waren von allen die unschuldigsten. Das konnte er hier, fünfzig Meter vor sich, sehen, als die junge Mutter ihr Kind über die Straße führte, knapp vor der Ecke, an der ein Dealer stand und gerade ein Geschäft abwickelte. Kelly bremste ab, um sie sicher die Straße überqueren zu lassen, und hoffte, die Fürsorge und Liebe, die sie heute nacht zeigte, würden bei ihrem Kind etwas ausrichten. Nahmen die Dealer Notiz von ihr? Waren die gewöhnlichen Bürger für sie überhaupt einen Blick wert? Waren sie ihre Tarnung? Potentielle Kunden? Störfaktoren? Beute? Und was war mit dem Kind? Kümmerte es sie überhaupt? Wahrscheinlich nicht.
»Scheiße«, flüsterte er leise, zu sehr in seine Gedanken versunken, um seine Wut offen zu zeigen.
»Was?« fragte Pam. Sie saß still da und beugte sich vom Fenster weg.
»Nichts, entschuldige.« Kelly schüttelte den Kopf und fuhr in seiner Beobachtung fort. Eigentlich machte es ihm allmählich Spaß. Es war ähnlich wie bei einem Spähtrupp. Eine Erkundung war ein Lernprozeß, und Kelly hatte schon immer leidenschaftlich gern gelernt. Das hier war etwas völlig Neues. Gewiß war es böse, zerstörerisch, häßlich, aber es war auch anders, und deshalb aufregend. Seine Hände am Lenkrad kribbelten.
Auch die Kunden waren unterschiedlich. Einige kamen eindeutig aus dem Viertel, was an ihrer Hautfarbe und der schäbigen Kleidung ersichtlich war. Einige waren süchtiger als andere, und Kelly fragte sich, was das wohl bedeutete. Waren die scheinbar noch ganz Lebenstüchtigen die neu Versklavten? Die Schlurfenden, die Veteranen der Selbstzerstörung, die unwiderruflich auf ihren eigenen To d zusteuerten? Wie konnte ein gewöhnlicher Mensch sie ansehen und nicht darüber erschrecken, daß eine solche Selbstzerstörung in kleinen Raten möglich war? Was trieb die Leute dazu? Kelly hielt bei diesem Gedanken fast den Wagen an. Das hier war etwas, womit er keinerlei Erfahrung hatte.
Dann waren da noch die anderen, die in so sauberen Mittelklassewagen vorführen, daß sie aus den Vorstädten kommen mußten, wo man gewisse Formen zu wahren hatte. Er überholte einen von ihnen und sah sich den Fahrer kurz an. Trägt sogar eine Krawatte! Allerdings gelockert, was seine Nervosität in einem solchen Viertel offenbarte; er kurbelte mit der einen Hand das Fenster herunter, während er die andere am Lenkrad behielt und zweifellos den Fuß direkt über dem Gaspedal in der Schwebe hielt, bereit, durchzustarten, sollte
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