01 Nightfall - Schwingen der Nacht
Worten umgehen – gewitzt und schnell.
Wir werden sehen, wie gewitzt er heute Nacht ist.
Ronin sog an seiner Zigarette. Der graue Rauch kringelte sich in der Luft und löste sich auf. Im Zimmer bildete sich ein feiner Schleier. E hatte versagt, das ließ sich nicht bestreiten. Ronin war nicht sicher, wie lange er ihn noch kontrollieren konnte, und fragte sich, ob er das je wirklich getan hatte.
Ein Soziopath. Ein Serienmörder. Ein sexueller Sadist. Wie sehr das Johanna freuen musste. Ihre harte Arbeit trug nun blutige, clevere Früchte. Aber wofür hob sie sich Dante auf? Warum hatte sie ihm erlaubt, so lange zu schlummern und wie hatte er bloß all das überlebt, was sie ihm angetan hatte?
Zugegeben, er war ein Blutgeborener. Johanna hatte Jahrhunderte Zeit gehabt, ihn zu lenken, zu manipulieren, in ihm Programmiertes auszulösen. Dante war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Er war ein Kind. Seine Begabungen, das volle Potenzial seiner Möglichkeiten würden sich vermutlich erst in mehreren Jahrzehnten, ja vielleicht sogar Jahrhunderten offenbaren.
Wessen bedurfte es, um ihn zu wecken? Um Dante wie eine verborgene Falle auf seine fille de sang losgehen zu lassen, die Frau, die es gewagt hatte, einen Blutgeborenen zu korrumpieren und zu manipulieren?
Die medizinischen und psychologischen Tests, die Johanna und der Sterbliche Dr. Wells an Dantes Bewusstsein und seinem Hirn durchgeführt hatten, wurden auffallenderweise in den Akten des Bad-Seed-Programm nicht erwähnt, die ihm ein anonymer Gönner zugespielt hatte. In Wahrheit musste er also alles Mögliche ausprobieren, da er nicht wusste, was sie mit Dante angestellt hatten. Ronin hatte eigentlich erwartet, Dantes Unterbewusstsein werde auf die Botschaften reagieren, aber bisher war nichts dergleichen geschehen. Vielleicht würde eine direktere Vorgehensweise helfen – indem er zum Beispiel Dantes unerwartete Präferenz für Sterbliche nutzte –, um die verschlossene Tür in dem hübschen Kopf wie mit einem Brecheisen aufzustemmen.
Ronin betrat das Zimmer. Leintücher und Decken waren auf dem ungemachten Bett zusammengeknüllt. Ein Buch, ein Aschenbecher und ein leeres Glas befanden sich auf dem Nachttisch.
Ronin drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und setzte sich auf die Bettkante. Er betrachtete den Buchdeckel – »Im Herzen des Monsters und andere Gedichte«. Der schwache Geruch von Whisky stieg ihm aus dem Glas in die Nase. Vom Bett trieb ein Hauch von Schwarzkirschen an ihm vorbei. Er folgte dem Duft bis zum Kissen. Als er in den Kissenbezug fasste, zog er einen schwarzen Nylonstrumpf heraus. Ginas Strumpf, ein Traumfänger für einen Mörder, ganz in der Nähe des Herzens dieses Monsters. Ronin ließ den Strumpf fallen.
Sein Mobiltelefon klingelte. Er hob ab. »Ja?«
»Etienne hier. Ich höre.«
16
BLUTSCHWÜRE
Dante öffnete die Augen. Kerzenlicht flackerte weiß und golden an der Decke. Schatten zitterten. Er roch nach Vanille duftendes Wachs und schmeckte Blut im Rachen. Sein Kopf pochte, doch der Schmerz schien in weiter Ferne zu lauern, als hätten ihn Morphium oder Luciens kühle Hände gelindert.
Es tat weh zu schlucken. Das Blut schmeckte nach seinem eigenen. Wieder Migräne? Wieder Nasenbluten? Welche Nacht war dies eigentlich? Er versuchte, sich zu besinnen, sich daran zu erinnern, was er vor dem Schlaf getan hatte. Aber er prallte an einer hohen, leeren Wand ab.
Jäh brandeten lebhafte Bilder durch seine Gedanken – eine Wespe, Ketten, die von Fleischerhaken hingen, ein blutiger Baseballschläger – und verwandelten sein Bewusstsein in einen Alptraum.
Stacheldrahtstacheln durchbohrten Haut. Wespen summten. Dante schüttelte den Kopf. Er spürte, wie Trey sanft gegen seine Schilde klopfte. Dante holte tief Luft und ließ ihn ein.
Eine Nachricht für dich auf dem Club-E-Mail-Konto, meldete Trey.
Oui?
›Ich weiß, wo dein hübsches Spielzeug versteckt ist. Er lebt, und es geht ihm einigermaßen. Sei nett, dann das wird so bleiben.
Ich werde dir eine Nachricht im Club hinterlegen.‹ Ich konnte die Botschaft zu einem Internetcafé zurückverfolgen. Getürkte Kreditkarte. Sackgasse.
Sein Puls raste, als Dante sich aufsetzte. Blut rauschte in seinen Schläfen.
»Agent Wallace hat angerufen, während du im Schlaf lagst«, sagte Lucien, der in diesem Moment ins Zimmer kam. »Der Mörder lebt noch, und sie rät dir, besser zu Hause zu bleiben. «
»Dann hatte sie also Recht«, sagte Dante. »Aber ich werde nicht daheim
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