01 Nightfall - Schwingen der Nacht
Etienne ihm die Haare, die er immer noch um die Finger gewickelt hatte, büschelweise ausriss. Blut rann ihm in den Nacken – warm und klebrig.
»Wach auf, S«, flüsterte Ronin. Sein Zeigefinger glitt über Jays Kehle.
Blut spritzte auf den fleckigen Boden, in Ronins Gesicht und die weiße Zwangsjacke. Jay keuchte.
»Nein!«
Dante fiel neben Jay auf die Knie und biss sich ins Handgelenk. Blut schoss hervor, dunkel, strotzend vor Leben.
Jay sah ihn an, seine Augen waren geweitet und verängstigt – und erloschen.
Arme legten sich wie Stahl um Dante und rissen ihn zurück. Er versuchte, sich zu befreien und rammte Etienne den Ellenbogen in die Rippen. Der Vampir hinter ihm japste gequält, ließ ihn los und fiel auf ihn. Dante befreite sich und sprang auf. Doch noch war er Etienne nicht los. Er bohrte seine Fingernägel in das Latexshirt und riss an Dantes Haut, so dass Dante vor Schmerz zischte.
Das Blut floss schon langsamer aus Jays Hals. Es bildete eine immer größer werdende Lache auf dem Boden um Jay und färbte dessen blondes Haar rot. Jays halb geschlossene Augen waren starr auf Dante gerichtet.
»Halt durch«, sagte Dante. »Halt durch.«
Ein Lächeln huschte über Jays bleiche Lippen.
Er warf sich mit letzter Kraft und angeheizt durch das Adrenalin, das noch durch seine Adern pumpte, nach vorn, wobei er Etienne mitriss. Er kroch auf Jay zu. Schweiß lief ihm in die Augen. Schmerz bohrte sich wie Nadeln in seine Schläfen. Er versenkte die Reißzähne in sein bereits verheilendes Handgelenk. Wieder quoll Blut heraus.
Ich wusste, du würdest kommen.
Jays Gedanke durchdrang den Schmerz in Dantes Geist und brachte die flüsternden Stimmen zum Schweigen.
Ich wusste, du würdest kommen.
Ein weiteres Gewicht fiel auf Dante herab und presste ihn auf den Betonboden. Ein weiteres Paar Hände riss an ihm und zog ihn auf die Knie. Hielt ihn mit einem eisernen Griff umschlossen. Schenkel schlossen sich um ihn. Eine Hand legte sich um seinen Hals, um den Kragen.
Ich wusste es.
Dante wehrte sich gegen die Hände und Schenkel, die ihn festhielten, und bemühte sich, seinen Mund an sein Handgelenk
zu pressen. Es gelang ihm, sich etwa einen halben Meter nach vorn zu bewegen, ehe ihn die Kraft verließ.
Ein Seufzer kam über Jays Lippen. Sein Herz hörte zu schlagen auf. Seine Augen brachen.
Eine Hand schob Dantes Haar beiseite. Glühende Lippen berührten sein Ohr.
»Wie fühlt sich das an, marmot ?«
Dante schrie.
19
ELOHIM
Flügel peitschten die nächtliche Luft, während Lucien mit geschlossenen Augen dahinflog und der komplizierten Arie lauschte, die in seinem Herzen und seinem Kopf erklang und ein dunkles Muster aus Informationen in sein Bewusstsein webte. Er wusste jetzt, wer der Sänger war, wie weit er gereist war – und warum.
Also blieb Lucien stumm und sein eigenes Wybrcathl ungesungen. Er weigerte sich, irgendetwas mit dem zu teilen, der da in den nächtlichen Himmel von New Orleans sang.
Kühle, klamme Luft schlug ihm entgegen und ließ Perlen aus mondlichtgetränktem Tau auf seinem Gesicht entstehen. Lucien schmeckte noch immer Dantes Blut auf den Lippen, geheimnisvoll und süß. Er spürte noch immer dessen Zögern und Frustration, roch seine Enttäuschung, die scharf und bitter gewesen war.
Du warst immer für mich da. Was es auch immer sein mag – lass mich diesmal für dich da sein.
Nein. Wappne dich. Sperr es aus. Versprich mir, mir nicht zu folgen.
Mann!
Versprich es.
Lucien öffnete die Augen und verbannte jeden Gedanken an Dante aus seinem Bewusstsein. Sein Lied war nicht das
Einzige, was er sich zu teilen weigerte. Seine Flügel rauschten durch die Nacht und brachten ihm den Boden näher, bis er auf St. Louis Nr. 3 landete. Totes Laub wirbelte unter seinem Flügelschlag über den Friedhofspfad. Seine nackten Füße berührten den kalten Steinweg.
Ein Aingeal saß auf einem nebelverhangenen Grab, auf dem der Name BARONNE zu lesen war, seine schwarzen ledrigen Flügel umschlossen seinen Körper und verhüllten diesen bis auf seine Krallenfüße vor neugierigen Blicken. Silbernes Filigran, das nur im Sternenlicht zu sehen waren, zierte seine Flügel. Sein Geruch, Ozon, brachliegende Erde und nächtlicher Tau, durchwehte die Stadt der Toten.
Jähe, ungeahnte Sehnsucht loderte in Luciens Adern auf, und er vermochte einen Moment lang kaum mehr zu atmen. Sein Puls schlug im gleichen Takt wie der unheimliche Rhythmus des Wybrcathls . Verlassenheit breitete sich in seinem
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