010 - Skandal in Waverly Hall
Anne war außerstande gewesen, auf sein unverbindliches Geplauder einzugehen. Anschließend hatte er versucht, sie auf die Wilderei auf den Ländereien rings um Wa-verly Hall anzusprechen. Aber es war ihr furchtbar schwergefallen, über das Landgut zu reden, das sie so liebte und nicht wiedersehen würde.
Endlich hatte der Herzog seine Aufmerksamkeit Dominick zugewandt. Dominick hatte ebenfalls ziemlich einsilbig auf die Bemerkungen seines Großvaters reagiert.
Beim dritten Gang hatte Rutherford es aufgegeben.
Anne sah zu, wie der Lakai in Cognac eingelegte Feigen und Kararnelcreme servierte.
Nach der endlosen Mahlzeit war ihr klar, daß Dominick und sie sich unmöglich auf einen höflichen Umgang einigen konnten. Es würde niemals klappen.
Als ahnte er, daß sie an ihn dachte, schaute Dominick zu ihr hinüber. „Nein, danke", sagte er zu dem livrierten Diener und verzichtete auf das Dessert, ebenso wie der Herzog vor ihm.
Dominick sah Anne fest an, und sie schaute hilflos zurück. Sein Blick raubte ihr den Atem und machte sie unglücklich und verlegen.
Entschlossen schob Dominick seinen Stuhl zurück. „Nun, nachdem alle fertig zu sein scheinen, werde ich gehen."
„Hast du noch etwas vor?" fragte der Herzog.
Dominick stand auf, und Anne straffte sich innerlich. Er beachtete sie nicht. „Ja, ich gehe zu einer Abendgesellschaft bei Lord Heath", antwortete er seinem Großvater.
Anne wunderte sich nicht wenig. Es war beinahe elf Uhr, und Dominick wollte noch fort. Eigentlich hätte sie es sich denken können, weil er einen korrekten Abendanzug trug. Plötzlich war sie verärgert und merkwürdig enttäuscht.
Der Herzog nickte und verzog keine Miene.
„Gute Nacht", sagte Dominick zu Anne.
„Gute Nacht", stieß sie mühsam hervor.
Er wandte sich ab und schlenderte aus dem Raum. Ihre Blicke folgten ihm. Er war ein unglaublich gutaussehender Mann.
Und sie ließ ihn ziehen.
Anne ging nicht gleich auf ihr Zimmer. Sie las eine Weile in der Bibliothek, konnte sich aber nicht auf die Worte in ihrem Buch konzentrieren und gab es schließlich auf.
Immer wieder mußte sie daran denken, daß Dominick jetzt mit anderen Frauen tanzte. Ob Felicity auch auf dem Fest bei Lord Heath war?
Endlich stieg sie langsam die Treppe hinauf. Obwohl sie zum erstenmal in Rutherford House war, hatte sie keinen Blick für das kostbare Mobiliar, die vergoldeten Decken, die Marmorsäulen oder die Malereien an den Wänden, die eines Königspalastes würdig gewesen wäre. Sie beachtete weder die Skulpturen, an denen sie vorüberkam, noch die zahlreichen Gemälde, unter denen sich etliche Meisterwerke befanden.
Das riesige Haus war furchtbar still. Trotz der Anwesenheit des Herzogs und des Personals, das aus rund fünfzig Bediensteten bestand, wirkte das Gebäude öde und leer. Anne kam sich furchtbar verlassen vor.
Sie betrat ihre Räume, ging zum Klingelzug und läutete nach Belle. Mit einem Blick auf die vergoldete Standuhr in der Ecke stellte sie fest, daß es nach Mitternacht war.
Dominick würde wahrscheinlich noch stundenlang wegbleiben. Und sich amüsieren.
Während ihr entsetzlich elend war.
Vielleicht hätte sie mit ihm gehen sollen. Natürlich nur, um den Schein zu wahren.
Belle ließ sich Zeit. Anne ging zu ihrem Schlafzimmer und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.
Sie erkannte das rote Wollplaid sofort. Es war dasselbe, das zu Füßen des Bettes gelegen hatte, das sie in Tavalon Castle mit Dominick geteilt hatte. Aber in Schottland war die Decke unbeschädigt gewesen. Jetzt war sie in zwei Teile gerissen.
Anne wurde kreideweiß.
22. KAPITEL
„Belle!" Anne zog die Zofe herein, sobald das junge Mädchen bei ihr auftauchte. Sie schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte das Schloß.
Belle wurde blaß. „Was ist passiert, Mylady?" rief sie aus.
Anne faßte den Arm der kleinen Französin und zerrte sie zum Schlafzimmer.
Verwirrt betrachtete Belle die zerrissene rote Wolldecke auf den schönen bernsteinfarbenen Seidenlaken. „Wer hat das häßliche Ding denn hierher gelegt?"
murmelte sie und zerrte die Decke herunter.
„Verstehst du nicht, Belle?" fragte Anne. „Begreifst du wirklich nicht?"
Die Zofe sah sie verständnislos an.
„Ich habe es mir nicht eingebildet. Jemand hat mich in Schottland beobachtet. Wer immer es war, er will mich wissen lassen, daß er auch jetzt da ist - hier in diesem Haus." Anne begann zu weinen. „Ich soll merken, daß er mich ständig beobachtet."
Belle
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