010 - Skandal in Waverly Hall
Die widersprüchlichsten Gefühle stritten sich in ihr, und sie war innerlich hin und her gerissen.
Nachdem sie endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, hatte Dominick sie auch in ihren Träumen verfolgt. Es waren Alpträume gewesen, denn sie hatte sich von ihm verführen lassen und sich lustvoll in seine Arme geschmiegt. Doch selbst dann hatte eine winzige Stimme in ihrem Kopf noch heftig gegen ihre unvernünftige Hingabe protestiert.
Erst sehr viel später war ihr Schlaf tief und traumlos geworden.
Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase, und Anne kroch weiter unter die Decke.
Sie wollte nicht aufwachen. Ihr Körper war schwer wie Blei, und sie konnte sich nicht rühren. Ihr Kopf schien sich zu drehen und war wie benebelt. Dabei wurde der Gestank immer stärker und unangenehmer. Sie wollte nichts damit zu tun haben.
Wahrscheinlich träume ich wieder, überlegte Anne. Aber diesmal handelte der Traum von einem Feuer.
Außerdem wurde ihr furchtbar warm. Entschlossen stieß sie die seidene Bettdecke fort.
Der ätzende, stechende Geruch ließ nicht nach. „Wach auf!" schrie ihr Verstand.
Anne riß erschrocken die Augen auf und begann sofort zu husten. Das Feuer war kein Traum gewesen. Es brannte tatsächlich in ihrem Zimmer.
Ruckartig setzte sie sich auf und erkannte im selben Moment, daß die Decke auf ihrem Nachttisch Feuer gefangen hatte. Die roten Flammen hatten die Spitze schon fast verzehrt. Sie züngelten an dem Holz und konnten jeden Moment auf ihr Bett übergreifen. Während sie noch wie versteinert zusah, zischte plötzlich etwas auf ihrem Nachttisch, und die weißen Rosen loderten auf.
Mit einem Schrei sprang Anne aus dem Bett und schlug mit ihrem Kissen auf das Feuer ein. Die Gaslampe fiel zu Boden, und das Unterteil aus Porzellan zerschellte.
Die hübsche Waterford-Vase, in der die Rosen gestanden hatten, stürzte ebenfalls hinab, zerbrach aber nicht.
Anne schwenkte das Kissen weiter kräftig auf die Flammen. Der Nachttisch wackelte, und ihre Bücher rutschten auf den Boden. Ihre zarte Teetasse und die Untertasse folgten und zerbrachen.
„Anne!" rief Dominick und stieß die Tür zu ihrem Zimmer krachend auf.
Endlich waren die Flammen gelöscht. Anne stand regungslos da. Sie rang nach Luft und starrte auf ihren verkohlten Nachttisch und die zerbrochenen Sachen auf dem Boden.
Dominick eilte an ihre Seite. „Was, zum Teufel, ist passiert?" wollte er wissen. Er drehte sich um und nahm eine Gaslampe von ihrem Schreibtisch. Kurz darauf hatte er sie angezündet und hielt das Licht in die Höhe. „Du liebe Güte", sagte er leise.
„Die beiden Kerzen müssen umgefallen sein."
Anne betrachtete die Zerstörung im Schein der Lampe und begann zu zittern. Das Spitzentuch war restlos verbrannt, und ihre Bücher waren angesengt. Wäre sie nicht aufgewacht, hätten die Flammen in den nächsten Minuten auf ihr Laken übergegriffen. Sie wagte gar nicht daran denken, was dann geschehen wäre.
Sie stieß einen heiseren Schrei aus, bückte sich und hob ihr Exemplar des Romans
„Moby Dick" auf. Der schöne Ledereinband war rabenschwarz geworden. Sie drückte das Buch an die Brust und entdeckte eine Rose, die verkohlt war, aber ihre Form behalten hatte. Ihr Blick blieb an der geschwärzten Blüte haften. Das Buch entglitt ihren Händen und fiel mit einem dumpfen Geräusch vor ihren Füßen zu Boden. Sie merkte es nicht einmal.
„Anne ..." Dominick stellte die Lampe auf den Schreibtisch zurück, trat zu ihr und zog sie in die Arme. Anne konnte sich nicht vom Anblick der schwarzen verkohlten Rose lösen.
„Anne", wiederholte Dominick heiser und legte die Hand hinter ihren Kopf.
Endlich merkte Anne, daß sie in Dominicks Armen lag und er sie sicher hielt. Sie blickte in seine topasfarbenen Augen und erkannte seine tiefe Besorgnis.
„Du hättest schwer verletzt werden können." Seine Stimme klang belegt, und er zog sie fester an sich. „Bin ich froh, daß dir nichts passiert ist."
Anne unterdrückte das Bedürfnis, hemmungslos loszuheulen. Sie hatte keinen Grund, wegen der verbrannten weißen Rosen oder dieses kleinen Feuers zu weinen.
Sie senkte den Kopf und legte die Wange an seine Brust.
„Es ist ja alles gut", beruhigte Dominick sie. Mit seiner starken Hand strich er über ihren Kopf und ihren dicken Zopf, der auf ihrem Rücken lag. Das Haar war nur locker gebunden. Die ersten winzigen Strähnchen hatten sich schon gelöst. „Es ist nur der Schock, der dir so zu schaffen macht.
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