010 - Skandal in Waverly Hall
weiter.
Ich habe einen Sohn und bin außer mir vor Freude. Ich weine tatsächlich vor Erleichterung und Glück.
Dominick stand auf, denn er hielt es nicht mehr aus. Irgend etwas stimmte hier nicht.
Philip hatte im ersten Jahr seiner Ehe eine Menge für Ciarisse empfunden, und er hatte seinen Sohn eindeutig geliebt. Was war in den nächsten achtundzwanzig Jahren geschehen? Weshalb hatte er seine Frau am Ende derart verachtet, daß er sie völlig mittellos zurückließ und mit seinem Letzten Willen dem Gespött der Leute preisgab?
Was war im Laufe seines Lebens passiert, das ihn von einem liebevollen Vater beinahe in einen Fremden verwandelte?
Die innere Stimme riet Dominick, nicht weiterzuforschen. Die Wahrheit konnte die Vergangenheit nicht ändern oder ungeschehen machen. Aus Unrecht wurde dadurch nicht Recht.
Aber Dominick mußte es unbedingt wissen. Deshalb setzte er sich wieder und las weiter.
15. Dezember 1830
Ich habe den Beweis gefunden, nach dem ich gesucht hatte. Ja, ich habe herumspioniert und geschnüffelt. Die Briefe waren in einem Geheimfach verborgen.
Es ist alles vorhanden. Der eindeutige Beweis dafür, daß Ciarisse mich hintergangen hat. Zum Teufel mit ihr. Zum Teufel mit allen beiden.
Wie dumm bin ich gewesen. Wie dumm bin ich immernoch. Inzwischen ist mir klar, daß ich die Wahrheit schon lange ahnte, gleich nach Dominicks Geburt. Vielleicht sogar schon früher. Eines schwöre ich: Das werde ich ihr nie verzeihen. Ich werde den beiden niemals verzeihen. Ich bin krank, richtig krank. Wenn ich die Gewehre sehe, die an der Wand hängen, bin ich beinahe versucht, eines zu nehmen und meinem eigenen elenden Leben ein Ende zu bereiten.
Ich bin getäuscht worden. Ich habe versucht, nach den Regeln dieser Welt zu leben, und sie haben mich verhöhnt. Sie haben mich getäuscht. Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Keine einzige.
Aber ich bin zu schwach, meine miserable Existenz zu beenden. Ebenso wie ich zu schwach bin, um sie oder ihn zu töten. Statt dessen werde ich nach Indien reisen.
Vielleicht werde ich nie von dort zurückkehren.
Dominick stand auf und verließ langsam die Bibliothek. Er hatte beinahe das ganze Tagebuch gelesen. Draußen dämmerte es schon. Der graue Himmel färbte sich im Osten goldrot.
Sein Vater hatte nicht Selbstmord begangen und auch Ciarisse oder ihren Liebhaber nicht getötet. Nach einjährigem Aufenthalt in Indien war er zurückgekehrt und beinahe unmittelbar anschließend auf den Balkan gereist. Nach dem Winter des Jahres 1830 war er kaum noch in Waverly Hall gewesen.
Über der Anrichte an der Wand hing ein großer venezianischer Spiegel. Dominick sah hinein und betrachtete sich nachdenklich.
Als kleines Kind hatte er manchmal gewünscht, Philip wäre nicht sein richtiger Vater.
Das war vor allem geschehen, wenn er die Aufmerksamkeit des Vaters nicht erringen konnte, nach der er sich unendlich gesehnt hatte. Dann hatte er sich ausgemalt, sein wirklicher Vater wäre ein wunderbarer, einfühlsamer Mensch, ein wahrer Held und sehr liebevoller Mann.
Natürlich hatten sich diese Phantasien im Laufe der Jahre gelegt, wie es alle Kinderphantasien tun. Doch jetzt hatte er tatsächlich allen Grund zu der Annahme, daß Philip nicht sein leiblicher Vater war.
Allerdings war Philip an keiner Stelle seines Tagebuchs deutlich geworden. Er hatte weder den Namen von Ciarisses Liebhaber erwähnt noch notiert, ob das Verhältnis vor oder nach seiner Eheschließung bestanden hatte oder sogar während seiner Ehe fortgesetzt worden war. Nachdem er den Treubruch seiner Frau festgestellt hatte, war er gegenüber jedermann feindselig geworden und von Haß erfüllt. In einer Eintragung war er noch ein fürsorglicher Ehemann und liebevoller Vater gewesen, in der nächsten haßte er seine Frau und seinen Sohn.
Konnte ein Mann den Sohn wegen der Verfehlungen der Mutter verabscheuen?
Konnte er die Wut an ihrem Treubruch an dem eigenen Sohn auslassen?
Oder war er, Dominick, das Ergebnis dieses Treubruchs?
War Philip überhaupt sein Vater?
Dominick fühlte sich immer elender. Wenn Philip nicht sein Erzeuger war, wäre dies die Erklärung, weshalb er sich nie wie ein richtiger Vater verhalten hatte. Sein eigen Fleisch und Blut hätte er gewiß nicht wegen der Sünden seiner Frau zurückgestoßen.
Allerdings war dies ziemlich unwahrscheinlich - eine unerhörte Vorstellung.
Natürlich wußte Rutherford alles - wie konnte es anders sein. Er, Dominick, war als ein St. Georges
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