0173 - Die Werwolf-Sippe
Glas. Wir prosteten uns zu.
Der Rektor trank langsam. Er genoß den Schluck. Ich hatte Zeit, den Mann zu beobachten.
Er hieß Roland Foucert, war etwa 45 und ein wenig untersetzt.
Das mittelblonde Haar hatte er kurz schneiden lassen. Ich sah zwei kleine, lebhafte Augen, ein etwas fliehendes Kinn und auf der Oberlippe ein schmales Bärtchen.
Das Glas hatte er auf einen Zug geleert und stellte es mit einem Seufzer ab. »Das tat gut«, sagte er und rieb sich die Hände.
Ich hatte auch getrunken. Der Apfelschnaps war ziemlich scharf, schärfer jedenfalls als der Whisky, den ich sonst gewohnt war.
»Ich freue mich wirklich, einen Kollegen aus England begrüßen zu dürfen«, erklärte mir Monsieur Foucert. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen. Ein Zimmer habe ich Ihnen bereits richten lassen, Herr Kollege.«
»Danke sehr.«
»Sollen wir gleich mit der Besichtigung beginnen oder erst einmal allgemeine Dinge besprechen?«
»Was ist Ihnen lieber?«
»Oh.« Roland Foucert lächelte. »Da richte ich mich wirklich ganz nach Ihnen, denn es ist Ihre Zeit, die Sie sich einzuteilen haben. Wirklich, Monsieur.«
Ich hatte mir natürlich überlegt, wonach ich meinen »Kollegen« fragen sollte. Viel war da nicht herausgekommen, denn ich hatte von so einem Schulbetrieb keine Ahnung. Deshalb schien mir eine Besichtigung der Schule angebrachter zu sein.
Um einen Aufhänger zu haben, sagte ich: »Bei Ihnen lernt doch eine Schülerin namens Sue Rutland?«
»Ja, das stimmt.«
»Nun, ich kenne die Eltern und möchte ihrer Tochter einen Gruß ausrichten.«
»Das läßt sich einrichten«, erwiderte er. »Ich sage eben meiner Sekretärin…« Er stockte plötzlich und schüttelte den Kopf. »Nein, das geht ja gar nicht.«
»Wieso?«
»Sue ist heute nicht zum Unterricht gekommen, soviel ich weiß.«
»Ist sie krank?«
»Möglich. Aber auch das müßte meine Sekretärin wissen. Ich werde mich erkundigen.«
Das war nicht mehr nötig, denn die Walküre von nebenan betrat wie auf Kommando das Büro. Sie blieb in der Tür stehen. Beide sahen wir ihr bleiches Gesicht.
Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl, sagte jedoch nichts und überließ Roland Foucert die Fragerei. »Ist Ihnen nicht gut, Helene?«
»Monsieur, Sie müssen sofort kommen!« keuchte sie.
Foucert warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Was ist denn los, Helene? So reden Sie doch!«
»Es ist etwas Schreckliches passiert. Man hat sie gefunden – tot…«
»Wen hat man gefunden?«
»Sue Rutland!«
***
Die Polizisten waren grün im Gesicht. Roland Foucert hatte sich übergeben müssen. Ich stand neben der Leiche und preßte hart die Lippen zusammen.
Sue Rutland war auf eine grausame Art und Weise ermordet worden. Ein Pilzsammler hatte ihre Leiche gefunden. Sie lag mitten im Wald, und man konnte es als einen wirklichen Zufall bezeichnen, daß sie entdeckt worden war.
Ich hatte schon Opfer gesehen, die ähnlich aussahen. Die Spur führte dann zu einem Mörder, der unter dem Begriff Werwolf lief.
Auch Sue sah so aus, als wäre sie einer solchen Bestie in die Hände gefallen. Ich dachte an ihre Briefe, die sie geschrieben hatte. Dort hatte sie den Mond so angeschwärmt. Und der Mond war für Werwölfe das Lebenselixier überhaupt.
Sie war keine Wölfin, doch sie schien auf dem Weg dahin gewesen zu sein. Nur – warum hatte man sie getötet? Und wie sollte man dies ihren Eltern beibringen?
Ich wandte mich ab. Um mich herum erklang das Gemurmel der Polizisten. Es waren Aufnahmen gemacht worden, man hatte den Fundort abgesucht, jetzt brachte jemand eine Decke, die er über die Tote breitete.
Ich ging zu Foucert und bot ihm eine Zigarette an, obwohl man im Wald ja nicht rauchen sollte. Er nahm das Stäbchen, und es wäre ihm fast aus der Hand gefallen, so sehr zitterte er.
»Ich begreife es nicht«, flüsterte er. »Ich kann es nicht fassen. Wer macht denn so etwas?«
»Das wird die Polizei feststellen.«
»Es sieht so aus, als wäre sie von einem Tier überfallen worden, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Dann waren es bestimmt die Wölfe.«
»Wölfe, sagten Sie?«
»Ja, Monsieur Sinclair. Sie haben richtig gehört. Hier soll es Wölfe geben.«
»Aber die sind ausgestorben.«
»So welche meine ich nicht.« Foucert senkte seine Stimme. »Man spricht von Werwölfen.«
»Das sind Fabeltiere.«
»Ha, das denken Sie.« Roland Foucert zog mich ein Stück zur Seite. »Die gibt es wirklich. Und zwar in dieser Gegend hier. Das ist ja das Schlimme. Wir
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