0246 - Fähre aus dem Jenseits
Vollbart glich einem Berseker, wie sie einst auf den Planken der Wikingerschiffe gestanden hatten. Jeder Funke der Zivilisation war von ihm abgefallen. In abgehackten Tönen ein rauhes Lied singend, ließ er ›Schattenjäger‹ durch die Luft sirren. Nun machten sich die vielen Übungen mit der mächtigen Klinge bezahlt.
Mit einem mächtigen Satz hatte Hexen-Hermann die Enterbrücke erklommen, die den ›Seewolf‹ mit der ›Hamlet‹ verband. Die Brücke war so schmal, daß immer nur ein Kämpfer auf ihn eindringen konnte.
Jeder der Geisterpiraten, der das versuchte, wurde von der sausenden Klinge getroffen. Doch immer neue Kämpfer rannten gegen ihn an. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Hexen-Hermanns Kraft erlahmte.
Hinter verschlossenen Türen hörte er die Passagiere schreien. Und dann nahm er wahr, wie hinter ihm eine Tür aufgestoßen wurde…
***
»Wir müssen mit ihnen verhandeln! Sie werden sicher mit sich reden lassen. Wenn wir ihnen genug bezahlen, lassen sie uns ganz sicher am Leben!« übertönte die Stimme des dicklichen Mannes mit der spiegelblanken Glatze und dem geschniegelten Anzug den Lärm.
Mehrere Stimmen brüllten durcheinander.
»Man muß mit ihnen reden! Man muß sich ergeben! Dann lassen sie uns am Leben! Ich will nicht sterben!« hörten wieder alle die Stimme des Dicken. Mit einem raschen Griff entriß er einer Frau einen langen Stockschirm und zerrte ein blütenweißes Taschentuch heraus, daß er an die Spitze des Schirmes band.
»Das Zeichen für Übergabe! Das werden sie respektieren!« gestikulierte der Dicke wild. Bevor ihn jemand hindern konnte, war er an der Tür und legte den Riegel um. Laut schreiend, die weiße Fahne schwingend, stürzte er nach draußen. Sofort drangen drei der seelenlosen Piraten mit erhobenen Waffen auf ihn ein. Das letzte, was der Dicke sah, war die Leere in den Augen der Untoten.
Über seinen zusammengebrochenen Körper hinweg wogte das Heer des Grauens auf die offene Tür zu. Kreischend wichen die Menschen zurück. Niemand hatte den Mut, vorzuspringen und die Tür wieder zu verschließen.
Mit mächtigen Schwertschlägen versuchte sich Manfred Riegel durch die Reihen der Angreifer Bahn zu brechen und den Geisterpiraten das Eindringen in das Innere der ›Hamlet‹ zu verwehren.
Er kam zu spät. Wie eine Sturzflut den Deich zerreißt, brandete es heran. Niemand wagte es, den Untoten sich in den Weg zu stellen.
Ungehindert drangen die toten Piraten Störtebeckers in das Innere der Hamlet ein…
***
Regina Stubbe rüttelte wie besessen an der Tür. Sie hörte die Schreie außerhalb der Kabine. Was immer da draußen vorging - man mußte sie hören. Und dann aus ihrem Gefängnis befreien.
Das Mädchen war wieder Herr ihrer Sinne. Der Wille des Urgastrias, der sich Regina Stubbe zur Sklavin gemacht hatte, war gewichen. Befremdet erkannte das Mädchen, daß sie das Amulett des Professor Zamorra in der Hand hielt.
Wie sie dazu gekommen war, konnte sie sich nicht erklären. Wichtig war nur, daß sie es so schnell wie möglich zurück brachte.
Aber die Kabinentür erwies sich als unüberbrückbares Hindernis. Sie war fest verschlossen.
»Aufmachen! Aufmachen!« schrie Regina und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Tür. Aber niemand der in panischer Angst vor den Geisterpiraten fliehenden Passagieren nahm Notiz davon.
Der baumlange Kerl mit dem Enterbeil in der Faust folgte ihnen mit zögernden Schritten. Es war kein Verstand in ihm. Nur der Befehl des Urgastrias.
»Töte!« lautete der Befehl des Dämons. » Töte, wen du erreichst!« Wie ein Betrunkener schwankend trokelte der Untote durch den Gang. Es war ihm gelungen, die Reihen der Verteidiger zu umgehen. Und so drang er immer weiter in das Innere des Schiffes vor.
Aber er war nicht schnell genug, die flüchtenden Menschen einzuholen. Dennoch ahnte sein vom Teufel geleiteter Instinkt, daß sie ihm nicht entkommen konnten. Irgendwo zwischen den unteren Schotten des Schiffes mußte sich das Schicksal der Fliehenden erfüllen.
Der untote Pirat jedoch spürte Leben in seiner Nähe. Leben, das nur durch eine Tür von ihm getrennt war.
»Aufmachen! Aufmachen!« wieder trommelte Regina Stubbe mit aller Kraft an die Tür. Sie hatte die Schritte gehört und nahm an, daß dies einer der Matrosen auf Kontrollgang war. Der mußte sie hören - und sie dann aus ihrem Gefängnis befreien.
Regina ahnte nicht, daß draußen das Grauen vorbei schlich. Und daß dieses Grauen aufmerksam geworden
Weitere Kostenlose Bücher