03 Arthur und die Stadt ohne Namen
»H« sah es so aus, als sei das Papier stellenweise abgerieben. So entdeckten wir über dem Querstrich Spuren eines weiteren schwachen Strichs darüber. Und was wir für den rechten Seitenstrich gehalten hatten, ging in Wirklichkeit nur bis zum Querstrich. Darunter war lediglich das Papier dunkel eingefleckt.
Ich schrieb die Buchstaben in der korrigierten Form auf einen Zettel. Statt LURCHE stand da jetzt LVRCPE. Das war etwas völlig anderes – allerdings noch weitaus rätselhafter als unsere erste Vermutung.
»Die ersten beiden Buchstaben könnten die Abkürzung für Liber Vacui, das Buch der Leere, sein«, spekulierte Larissa.
»Gut möglich«, erwiderte ich. »Oder sie stellen eine lateinische Zahl dar. L steht für 50, V für 5. Das wäre dann eine 55.«
Ich schrieb die Ergebnisse untereinander:
Liber Vacui RCPE.
55RCPE.
»Wir müssen rausfinden, was RCPE bedeutet«, sagte Larissa.
Und das ging überraschend schnell. Bereits das erste Ergebnis verwies uns auf das Royal College of Physicians of Edinburgh. Diese Ärzteorganisation war vor einigen Jahrhunderten gegründet worden und besaß in der Queen Street eine eigene Bibliothek mit zahlreichen alten Büchern.
»Bingo!«, rief ich. »Das sieht doch gut aus.«
Larissa sah bereits auf Google Maps nach, wo sich die Queen Street befand. »Es ist etwa eine Viertelstunde von hier«, sagte sie.
»Dann wollen wir hoffen, dass sie uns in die Bibliothek hineinlassen.«
Wir tranken aus und machten uns auf den Weg. Dabei mieden wir die kürzeste Strecke, die uns durch eine der engen Gassen zwischen den Gebäuden vom Hügel herabgeführt hätte, und hielten uns an die breiten und bevölkerten Straßen.
Auf der North Bridge liefen wir über die Schienen von Waverley Station und bogen dann hinter dem legendären Balmoral Hotel in die geschäftige Princes Street ein. Die erste größere Querstraße führte uns hügelan auf die Queen Street.
Kurz darauf standen wir vor der Hausnummer 9. Vier Säulen trugen das Vordach des Gebäudes aus hellem Stein, auf dem zwei mannshohe Statuen in römischen Gewändern standen. Rechts und links von der geöffneten Eingangstür war jeweils ein Äskulapstab angebracht.
Der Website der RCPE hatte ich entnommen, dass auch Privatpersonen die Räumlichkeiten für Feiern, wie zum Beispiel Hochzeiten, nutzen konnten. Offenbar waren soeben die Vorbereitungen für ein solches Ereignis im Gange. Vor dem Haus standen zwei Lieferwagen mit geöffneten Hecktüren, aus denen ein paar junge Leute Kisten mit Gläsern und Tellern sowie Klappstühle ins Gebäude trugen.
Ich gab Larissa ein Zeichen und wir schnappten uns jeder zwei Stühle. Dann marschierten wir damit ins College, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Ohne von jemandem angehalten zu werden, folgten wir dem vor uns laufenden Mann durch eine große Eingangshalle, eine breite Treppe hinauf und durch einen prächtig verzierten Saal mit dunkelroten Wänden und Marmorsäulen. Von dort ging es eine weitere Treppe mit goldverziertem Geländer empor in die neue Bibliothek. Hier sollte offenbar die Feier stattfinden.
Der Raum war zwei Stockwerke hoch, mit einer gewölbten und mit Intarsien geschmückten Decke. Ein lindgrüner Teppich zog sich durch die gesamte Länge, flankiert von mächtigen hölzernen Bücherschränken, die in den Raum hereinragten wie Wellenbrecher in die Flut. Über unseren Köpfen lief eine Empore mit weiteren Schränken einmal ganz um den Raum herum.
Zum Glück für uns wuselten überall in der Bibliothek Menschen umher. Die Mitarbeiter des Colleges hielten uns wahrscheinlich für Externe und die Externen für Mitarbeiter des Colleges. Wir trugen unsere Stühle bis ganz nach vorn in den Raum, wo bereits zwei Reihen standen. Möglichst langsam bauten wir sie auf, wobei wir alles um uns herum genau in Augenschein nahmen.
Die Bücherschränke waren natürlich verschlossen. Durch die Glastüren erkannten wir, dass hier in der Tat jede Menge alter Schwarten aufbewahrt wurden. Allerdings würde es schwierig sein, an sie heranzukommen. Die vielen Menschen hatten uns zwar geholfen, unerkannt hereinzugelangen; sie hinderten uns aber zugleich daran, uns an den Schränken zu schaffen zu machen.
Ich beobachtete, dass einer der Schränke geöffnet war. Davor stand eine ältere Frau, die einzelne Bände herausnahm und sie sorgfältig in einen Karton packte. Auf den Zehenspitzen stehend, versuchte sie gerade, ein weiteres Buch herauszunehmen, was ihr
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