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gehört zu haben, denn sie begriff, dass ihre Unruhe nur durch die mit ihr durchgehende Fantasie zurückzuführen war.
„Würden Sie mir diesen Tanz gewähren, Miss Nunez?" fragte Lucien Picard, ein gut aussehender blonder junger Mann von durchschnittlicher Größe in dem Augenblick, da die Musik einsetzte.
„Ja, Mr. Picard. Ich würde gern mit Ihnen tanzen", antwortete sie und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. Er nahm ihr das Glas ab und stellte es auf ein Tischchen.
Dann ergriff er ihre Hand und entzog sie ihren Verehrern.
All die anderen sie begehrenden Junggesellen, die sich um sie versammelt hatten, unterdrückten ob der Nieder-läge ein Aufstöhnen und bekämpften den Neid, während sie ihren Mitbewerber die schöne Miss Nunez auf das Tanzparkett geleiten und in die Arme nehmen sahen.
Mr. Picard war ein bekannter Frauenheld, und sie wären eindeutig im Nachteil gewesen, hätten sie versucht, sie ihm abzugewinnen.
Jeder anwesende Mann fand, Miss Nunez sei eine hinreißende Schönheit, und jeder wollte derjenige sein, der sie in den Armen hielt. Ihr rabenschwarzes Haar war zu einer Fülle weich fallender Locken frisiert, die förmlich danach zu verlangen schienen, von einem Mann zerrauft zu werden. Das blassgoldene schulterfreie Abendkleid war die perfekte Hülle für ihre einzigartige Schönheit. Das Dekollete war tief genug geschnitten, um den Ansatz der Brüste erkennen zu lassen, doch die rotgoldene und cremefarbene gerüschte Einfassung des Ausschnitts verlieh dem sinnlich und betörend wirkenden Kleid den richtigen Hauch von Schicklichkeit. Es hatte einen weiten, von der schlanken Taille an ausgestellten Rock, der bezaubernd um Miss Nunez schwebte, während sie von Mr. Picard durch den Raum gewirbelt wurde. Sie war bestrickend und verführerisch und sah ganz wie eine im Umgang mit Männern sehr erfahrene Frau aus. Alle Männer hofften, sie werde noch eine Weile bei den Delacroix' zu Besuch und somit in der Stadt sein.
Als die Musik verklungen war, erschien Emilie neben Reina und zog sie mit sich, damit sie sich erfrischen konnte, ehe ein weiterer junger Galan die Gelegenheit nutzen und die Freundin zum nächsten Tanz auffordern konnte. Luden sah Miss Nunez sich entfernen und hielt den glühenden Blick auf sie gerichtet, während sie durch den Saal ging. Erst nachdem sie den Korridor betreten hatte und außer Sicht geraten war, bewegte Lucien sich und gesellte sich zu den anderen Frauen.
„Nun?" fragte Emilie. Ihre Augen glänzten und funkelten, während sie mit Reina die gewundene, zur nächsten Etage führende Treppe hinaufstieg. Dort waren einige Räume für die Damen bereitgestellt worden.
„Nun was?" äußerte Reina und bemühte sich, nicht zu lächeln.
„Ich hasse es, dir vorzuhalten, ich hätte das gleich gesagt, aber ich habe es dir gleich gesagt. Du amüsierst dich prächtig, nicht wahr?"
„Du weißt, dass ich das tue", räumte Reina gutmütig ein. „Ich bin froh, dass du mich dazu überredet hast, heute Abend herzukommen."
„Auch ich freue mich darüber", gestand Emilie. „Es ist schön, dich derart entspannt und so wie früher benehmen zu sehen. Ich bin noch immer nicht ganz darüber hinweg, dass ich dich in diesem Nonnenhabit gesehen habe."
„Ich frage mich, ob ich je über die ganze Geschichte hinwegkommen werde."
„Ich dachte, wir hätten heute Nachmittag ein Abkommen getroffen. Du hast mir versprochen, dir heute Abend keine Sorgen zu machen. Du hast gesagt, du würdest mitkommen und dich gut amüsieren und deinen Vater vergessen."
„Ich amüsiere mich gut. Aber ich weiß einfach nicht, warum ich mich heute Nachmittag so geängstigt habe. Im Allgemeinen rege ich mich nicht so auf, doch aus irgendeinem Grund hatte ich wirklich Angst." Reina erschauerte, als sie an die bösen Vorahnungen dachte, von denen sie ohne ersichtlichen Grund am Nachmittag überkommen worden war.
„Ich weiß", erwiderte Emilie mitfühlend. „Aber das ist überhaupt nicht mehr von Bedeutung. Du bist hier, und alles ist in Ordnung, genauso, wie ich dir das vorausgesagt habe."
„Du hast Recht." Reina verdrängte die Sorgen. An diesem Abend war sie nicht Reina Alvarez. An diesem Abend war sie Isabel Nunez. „Alles verläuft wunderbar."
„Nun, . . . fast wunderbar", entgegnete Emilie trocken.
„Was meinst du damit?" Reina blieb auf der Stufe stehen und schaute fragend die Freundin an.
„Glaubst du . . ." Der Wirkung halber hielt Emilie kurz inne und erkundigte sich dann in
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