038 - Verbotene Sehnsucht
auf den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit zu konzentrieren.
Die Damen überließen ihre Umhänge einem Lakaien, welcher sich prompt damit entfernte. Und dann waren sie auch schon am Eingang des Ballsaals angelangt, wo ein weiterer Lakai mit prachtvoller Perücke ihr Kommen ankündigte. Der Saal war von majestätischen Ausmaßen, was leider wenig gegen die stickige Hitze half, denn er war bis zum letzten Winkel von Menschen erfüllt. Die Gäste standen so dicht beieinander, dass man warten musste, bis einem etwas Platz gemacht wurde, wollte man auch nur einen Schritt vorwärts machen.
Sam merkte, wie seine Arme zu zucken begannen, und musste sich sehr beherrschen, seine Reflexe zu beherrschen. So stellte er sich die Hölle vor. Heiß, stickig, schwitzende Körper, die sich dicht aneinanderdrängten, der Lärm unzähliger Stimmen, die laut lachten, redeten, schimpften. Er spürte einen Schweißtropfen seinen Rücken hinabrinnen. Mademoiselle Molyneux hatte bereits eine Bekannte getroffen und war in der Menschenmenge verschwunden. Als jemand Lady Emeline anrempelte, bleckte er unwillkürlich die Zähne und warf dem Mann einen finsteren Blick zu. Dieser sah ihn verdutzt und mit erhitzten Wangen an, dann war auch er wieder in der Menge verschwunden. Sam schloss einen Moment die Augen, um die Panik zu unterdrücken, die in ihm aufstieg, aber nun überwältigte das Schlimmste von allem erst seine Sinne.
Der Geruch.
Oh Gott, dieser Gestank! Eine Mischung aus dem heißen Wachs der brennenden Kerzen, schlechtem Atem und schwitzenden Leibern. Männerschweiß. Dieser durchdringende, säuerliche Geruch, dieser muffige Gestank, dieser beißende Dunst aus schwitzenden Achselhöhlen. Schwitzende Männer. Sie stießen ihn zur Seite, versuchten, an ihm vorbeizukommen, versuchten wegzulaufen. Einige alt genug, um schon Großväter zu sein, andere gerade mal alt genug, sich zu rasieren. Und alle fürchteten sie um ihr Leben, alle wollten sie nichts weiter als den nächsten Tag erleben. Das war es, was er roch: Todesangst. Keuchend rang er nach Luft, aber alle Luft war von den unendlich plappernden Mündern aufgesogen worden, und er roch nur noch die Furcht vor der Schlacht und den Gestank von Schweiß und Blut.
„Mr. Hartley. Samuel."
Ihre Stimme klang ganz nah, und er spürte eine kühle Hand auf seiner Wange.
Mühsam öffnete er die Augen.
Ihre schwarzen Augen starrten in die seinen, und er war wie gebannt, versuchte, sich einzig auf sie zu konzentrieren.
„Alles in Ordnung?", fragte sie.
Er machte den Mund auf und sprach das Wort sehr sorgsam aus, sagte die Wahrheit, weil er sich außerstande sah, etwas anderes zu tun. „Nein."
Sie sah kurz beiseite, und er packte sie fest bei den Schultern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Wissen Sie, was mit ihm los ist?", hörte er sie fragen.
„Ich weiß es nicht. So habe ich ihn noch nie erlebt", antwortete Rebecca.
Als ihre dunklen Augen sich ihm wieder zuwandten, empfand er tiefe Erleichterung.
„Kommen Sie mit."
Er nickte und schluckte angestrengt, stolperte ihr hinterher, als wäre er betrunken.
Sie kamen nur langsam voran, und er war sich bewusst, dass ihm der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Er versuchte, auf nichts anderes zu achten als auf sie, sie war sein Weg aus diesem Wahnsinn, er durfte sie nicht aus den Augen verlieren.
Und ganz plötzlich waren da Türen, und er stürzte hinaus in die kühle frische Luft. Es war eine offene Veranda. Er schaffte es gerade noch bis ans eine Ende, ehe er sich über die Balustrade beugte und sich hinab ins Gebüsch erbrach.
„Er ist krank", hörte Sam Rebecca sagen, als er gierig nach Luft schnappte.
„Vielleicht hat er etwas Verdorbenes gegessen. Wir sollten einen Arzt rufen."
„Nein", stieß er keuchend hervor. „Keinen Arzt."
Hinter ihm gab Rebecca ein zutiefst besorgtes Seufzen von sich. Er wünschte sich, sie ansehen, ihr versichern zu können, dass alles in Ordnung wäre und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Lady Emeline trat zu ihm. „Mr. Hartley", sagte sie leise und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Er versuchte sie abzuschütteln. Schlimm genug, dass eine Frau ihn so sah - aber ausgerechnet sie\ „Sie sind krank. Bitte tun Sie der Sorge Ihrer Schwester Genüge, und lassen Sie uns nach einem Arzt schicken."
Sam schloss die Augen und bezwang das Zittern, das seinen ganzen Körper erfasst hatte, bezwang die Ängste, die ihn zu überwältigen und zu verraten drohten.
Weitere Kostenlose Bücher