0478 - Der Horror-Kalender
mir. Sage mir, wie er aussieht.«
Der Maler sprach in die Dunkelheit hinein. Er redete sehr leise, kein Wort sollte draußen gehört werden, und die noch immer nicht sichtbare Myrthe hörte aufmerksam zu. Manchmal stieß sie zischende Laute aus, dann war auch ein leises Schwirren zu hören, als würden sich Insekten in der Luft bewegen.
»Noch etwas?«
»Nein, ich habe ihn dir beschrieben.«
»Und du kennst ihn nicht, diesen Sinclair?«
»Nein… nicht so!« Die Antwort klang zögernd.
»Aber wir kennen ihn. Wir kennen ihn genau. Er ist sehr gefährlich. Er kann unsere Pläne durchkreuzen. Wir werden ihn ausschalten müssen. Oder sogar fliehen.«
Der Zeichner war dagegen. Er trat hart mit dem Fuß auf. »Das sehe ich nicht ein. Ich werde nicht vor einem Menschen, wie er es ist, davonlaufen. Ich bleibe, ich stelle mich. Übermorgen ist Valentinstag, der Tag der Verliebten, da wird es passieren. Da muß es einfach geschehen, verstehst du?«
»Ja, das weiß ich.«
»Also, in den nächsten beiden Tagen muß Sinclair sterben. Am Valentinstag werden sie alle kommen, bisher sind sie nur vereinzelt erschienen, das weißt du…«
»Ich habe es gespürt. Eine Frau ist gestorben. Das… Monster verließ den Kalender.«
»Ja, es verließ ihn. Meine Kraft reichte nicht aus, um sie alle zu kontrollieren. Ich spüre, daß sie sich wehren wollen. Sie alle sind meine Kinder, meine Geschöpfe, ich bin ihre Mutter, aber ich kann sie nicht halten. Sie drängen sich vor, sie wollen nicht mehr in ihrer Welt gefangen sein, und sie hinterlassen Spuren. Man wird uns wahrscheinlich jagen, mein Lieber…«
»Aber man kann uns nichts beweisen.«
Aus dem Finstern drang ein geheimnisvolles Lachen. »Das stimmt. Es stimmt sogar genau, aber…«
Die Worte brachen mitten im Satz ab. Statt dessen vernahm Javankala ein tiefes Stöhnen und ein gleichzeitiges helles Summen, als hätten sich die Insekten stolz vermehrt und würden mit heftigen Flügelbewegungen verschwinden.
Javankala war geschockt. Er ging zurück, bis er die Tür im Rücken spürte. Es gefiel ihm nicht, was da vor ihm geschah. Ein Luftzug streifte sein Gesicht, das Surren nahm an Lautstärke zu, dann brach es von einem Moment zum anderen ab.
Der Maler bewegte sich nicht. Er traute sich auch nicht, an seine Verbündete eine Frage zu stellen.
Wenn sie etwas sagen wollte, würde sie sich schon melden.
So war es auch.
Aber sie sprach anders, gequälter und mühevoller, als müßte sie erst über jedes Wort nachdenken.
»Es ist passiert«, sagte sie. »Es ist das eingetreten, was ich befürchtete.«
»Was denn?«
Es kam noch keine Antwort. Der Maler empfand die Stille als ungemein drückend. Er wollte nachhaken, als das unsichtbare Wesen schließlich anfing zu sprechen.
»Ein Kalenderblatt ist zerstört worden. Man hat es vernichtet. Man hat es aufgelöst. Unser Feind ist mächtig, mächtiger als ich dachte. Wir werden uns…«
»War es Sinclair?«
»Wer sonst?« fragte die Unsichtbare zurück. »Aber jetzt wirst du das Licht einschalten. Ich will frei sein. Ich werde mich selbst auf die Suche nach ihm begeben. Ich muß ihn haben, denn er hat mir eines meiner geistigen Kinder genommen.«
Die Hand des Bärtigen lag bereits am Schalter. Er brauchte ihn nur nach unten zu kicken.
Unter der Decke flammte die Lampe auf, erleuchtete den kleinen, kammerartigen Raum, und der Maler sah endlich, wer vor ihm stand.
Das Wesen war kein Mensch, es war eine Harpyie!
***
Ich hatte zuvor bei Lady Sarah nicht einmal angerufen, war einfach zu ihr gefahren, hatte geklingelt und sah nun ihr überraschtes Gesicht, als sie mir die Tür öffnete.
»Du, John?«
»Ja, ich.«
»Wenn das keine Überraschung ist!« Sie trat einen Schritt zur Seite, um die Türöffnung freizugeben. »Komm doch rein, bitte.«
Ich wußte ja, was sich gehörte, trat meine Sohlen ab und ging in den Hausflur.
Lady Sarah schloß die Tür. »John, laß mich raten«, sagte sie. »Du willst nicht mich besuchen, sondern Jane.«
»Irrtum.«
»Lüg nicht.«
Ich drückte die alte Dame an mich, was sie ganz verlegen machte. »Aber nicht doch, mein Junge, da gibt es doch jüngere Frauen, die so etwas viel lieber haben.«
»Möglich, aber die sind nicht so nett wie du!«
»Schmeichler.« Sie drückte mich ebenfalls. »Komm in die gute Stube. Ich bin gerade dabei, meine neuen Filme zu sortieren. Einige habe ich mir wieder besorgen können.«
»Welche denn?«
Lady Sarah war schon vorgegangen. Sie sammelte alles,
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