056 - Der Werwolf
hellen Nachmittagslicht. Der Förster unterdrückte mühsam seine Erregung und zielte auf die Decke des Tieres, dicht hinter den Vorderläufen, in Höhe der Augen.
Der Zeigefinger krümmte sich, nahm Druckpunkt. Da bewegte sich das Tier. Es tänzelte blitzschnell auf den Vorderläufen, dann sprang es vorwärts, dem Graben neben der Straße entgegen.
Der Schuß löste sich.
Der Rückschlag kam dumpf durch den Stoff der grünen Jacke. Getroffen! Der Wolf war von dem Schuß zur Seite gerissen und in den Graben geworfen worden. Sorgfältig lud der Förster nach. Aufgeschreckte Vögel vollführten einen Höllenlärm.
Das Gewehr im Anschlag, Schritt um Schritt, ging der Mann über die schmale, geteerte Straße. Ein Blick nach hinten. Die Touristen saßen im Wagen oder im Anhänger. Sie waren also in Sicherheit.
„Sollte ich tatsächlich den Killerwolf erschossen haben, den schwarzen Einzelgänger?“ murmelte er und wartete darauf, daß ihn der tödlich getroffene Wolf anspringen würde.
Als er die Stelle erreichte, an der das Tier von der Straße geschleudert worden war, fand er den Graben leer. Ungläubig sah sich der junge Mann um, dann richtete er den Blick nach unten.
Kein Blut. Nicht einmal der Abdruck eines Körpers, nur eine schmale Spur im Gras und in den Unkräutern des Grabens.
Er war sicher, den Wolf getroffen zu haben. Der Schuß hatte gesessen, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Kein Blattschuß, aber ein Treffer mitten in den Körper.
Er konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben!
Die Sekunde, die das Tier gezögert hatte, hätte ihm das Leben kosten können. Der Wolf hatte einfach nicht gewußt, ob er angreifen und sich eines der Kinder schnappen oder flüchten sollte, um sein nächtliches Vorhaben durchführen zu können.
Die Entscheidung war ihm durch den Förster abgenommen worden, denn als der Mann sich umgedreht hatte, sah der Wolf das Jagdgewehr auf sich gerichtet. Er war losgesprungen, um sich in dem Graben zu verbergen und von dort aus wieder seinen Weg durch die Wälder aufzunehmen. Eine brutale Kraft hatte ihn zur Seite geschmettert. Es war, als habe ihn ein Hammer mit gewaltigem Schwung in die Seite getroffen, aber er hatte keinen Schmerz gespürt.
Jetzt umfing ihn wieder das kühle Dunkel des Waldes. Unhörbar rannte der Wolf zwischen den knorrigen Wurzeln dahin, sprang über verdorrte Äste und wich sorgfältig den Haufen des heruntergefallenen, raschelnden Laubes aus.
Als er eine genügend große Entfernung zwischen sich und den Jäger gebracht hatte, blieb er stehen. Der Mann hatte keinen Hund bei sich gehabt, also würde ihn auch nichts mehr verraten können. Seine Spur blieb unsichtbar und führte heute nacht in einem großen Bogen zu seinem Ziel.
Der Wolf drehte seinen Körper und blickte an seinen Flanken entlang. Weder ein Einschuß noch eine Wunde war zu erkennen. Als er zuerst mit der Zunge und dann mit Schnauze und Pfote an der Stelle scheuerte, spürte er noch immer nichts. Auch der von dem Geschoß abrasierte Streifen war unverletzt. Keine Narbe, keine ausgefallenen Haare, keine Wunde waren zurückgeblieben.
Diese Tatsache verwirrte den Wolf.
Langsam lief er weiter.
Der menschliche Verstand, der sich mit dem Tier so innig verbunden hatte, daß es in Wirklichkeit nur ein Wesen gab, versuchte, eine Erklärung zu finden.
Hier mußte eine Macht im Spiel sein, die sich nicht erfassen ließ. Vielleicht besaß er diese Macht über die Menschen, die man allen Spukgestalten und Fabelwesen zuschrieb, seit er mit Christian Franke vereint war.
Damit verband sich der Gedanke an Gespenster, die überraschend lange aktiv blieben, an Unsichtbarkeit und Unverletzlichkeit.
War er ein Werwolf, für den es jetzt kein Hindernis mehr gab?
In lockerem Trab lief der schwarze Wolf der Kleinstadt zu, die zwischen dem Rand der Landeshauptstadt und seinem jetzigen Standort lag. Unbeobachtet, nur von in panischer Flucht davon springenden Rehrudeln, Hasen und Vögeln bemerkt, rannte das Tier seinem Ziel entgegen.
Christian Franke, der unverletzliche Wolf.
Mein Gott, dachte Gerd Becker, als er mehr zufällig als von echter Neugierde getrieben die Nachrichten hörte.
Ausnahmsweise schien der Amtsschimmel einmal galoppiert zu sein, denn schon gegen Mittag hatte ein verhältnismäßig großes Aufgebot versucht, den Wolf zu fangen. Sie hatten einen Acker mit Blei und Stahl gespickt, aber den Wolf nicht ein einziges Mal getroffen.
Martha Franke war tot, ebenso
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