0623 - Ein Tropfen Ewigkeit
leben.
Der Spuk hatte sie allein gelassen. Jetzt kam es auf sie an, den richtigen Weg zu finden.
Konzentration war alles. Von den flaming stones her war sie es gewohnt, sich konzentrieren zu müssen, praktisch aus ihrer eigenen Haut zu fahren und zu einem Wesen zu werden, das einging in die Geschicke der Dimensionen. Hier, in dieser Unendlichkeit stehend, besaß sie nichts, was ihr eventuell geholfen hätte, da mußte sie schon selbst so eingreifen, daß Entfernungen – Raum und Zeit – zu lächerlichen Distanzen degradiert wurden.
Avalon!
Die Schöne aus dem Totenreich sprach in Gedanken. Sie konzentrierte sich nur auf diesen Ort, diesen einen Namen, das Eiland, das in der Unendlichkeit schwebte.
Sie mußte den Weg finden. Ihr sollten sich die Welten öffnen und sie hintragen.
Kara merkte, wie der Tropfen aus dem Trank des Vergessens anfing zu arbeiten. Nicht daß er sich in eine Säure verwandelt hätte, aber er begann zu pulsieren, zu zittern. Er brannte auf ihrer Stirn. Es schmerzte sie nicht, es war nur ein wundersames Gefühl, daß sich ausbreitete wie Wellen in einem Teich, dessen ruhige Wasserfläche von einem Stein in Bewegung geraten worden war.
Kara fühlte nach. Fingerkuppen tasteten die nähere Umgebung des Steins ab. Dort war die Haut um einiges wärmer als an den normalen Stellen. Magische Energie drang ein in ihren Kopf und pflanzte sich dort fort.
Sie hörte ihr Herz lauter schlagen, das Blut rauschte stärker durch die Adern, von ihrem Ziel ließ sich die Schöne nicht aus dem Totenreich ablenken.
Die Insel…
Wo lag sie? Wie konnte sie das Eiland erreichen, dessen Existenz sich durch zahlreichen Sagen und Legenden schwang? Gab es Avalon überhaupt? Kara kannte keinen, der mit ihr darüber konkret geredet hätte. Trotz der Hilfe durch den Tropfen stiegen erste Zweifel in ihr hoch. Ein Zittern durchrann den Körper. Plötzlich fürchtete sie, alles falsch gemacht zu haben. Flüsternd sprach sie den Namen der Insel aus. Die Augen hatte sie weit geöffnet, als wollte sie jemand hypnotisieren. Die Gedankenkette um die Insel verstärkte sich noch weiter. Nur dieses eine Ziel besaß Kara. Sie wußte auch, daß sie sich beeilen müßte, denn die Energie des Tropfens hielt nicht ewig. Irgendwann würde sie verbraucht sein, und sie glaubte nicht daran, daß ihr der Spuk Nachschub liefern würde.
Etwas veränderte sich.
Urplötzlich kam sie sich vor, als würde sie von zahlreichen Händen getragen. Die Finsternis blieb zwar starr, trotzdem bewegte sie sich, und Kara trieb hindurch.
Weg, immer weiter weg…
»Avalon!« Sie flüsterte den Namen, während der Tropfen auf ihrer Stirn brannte, als würde er ein Feuer entlassen, dessen Flammenzungen die Stirn einhüllte.
Der Raum war unendlich groß. In ihm verlor sich die Zeit als relative Größe.
Es gab keine Richtungen, keine bestimmten Fixpunkte. Wenn sie Pech hatte, war sie verloren in der Unendlichkeit des Kosmos, in den Mühlsteinen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Es blieb ihr nur eines übrig.
Zu hoffen, daß die alten atlantischen Kräfte innerhalb des Tranks auch in einer anderen Zeit nicht ihre Wirksamkeit verloren…
***
Ich befand mich auf der geheimnisvollen Nebelinsel!
Es war kein Traum, keine Einbildung, kein Wunschdenken, sondern die reine Realität. Zudem konnte ich über das Eiland hinwegschauen, weil ich auf einem Berg oder einem Hügel meinen Standplatz gefunden hatte.
Ein blühendes Land lag vor mir. Zuerst verglich ich es mit Aibon, mußte diesen Vergleich allerdings gleich wieder kappen, denn das Land der Druiden war trotzdem anders als Avalon. In Aibon gab es mehr Grün, während hier auf Avalon die Farbenvielfalt überwog und zu einem blühenden Meer herangewachsen war.
Den Schattenreiter sah ich nicht mehr. Er hatte mich gebracht und war verschwunden, so schnell und plötzlich, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Ohne ein Wort des Abschieds und der Erklärung hatte er mich allein zurückgelassen, als wollte er mir die Chance geben, die geheimnisvolle Insel zu durchforschen.
Die Ereignisse der Vergangenheit lagen für mich nur einen winzigen Moment zurück, wobei ich gleichzeitig das Gefühl bekam, sie wären meilenweit entfernt.
Seltsam…
Die Zeit spielte hier keine Rolle. Avalon war nicht von ihr abhängig. Ich wußte überhaupt nicht, ob auf diesem sagenhaften Eiland so etwas wie Zeit existierte. Man mußte die Nebel- und Toteninsel so hinnehmen, wie sie war.
Aber was war sie?
Eine
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