067 - Der Redner
Miss Linstead. Was gibt es?«
Es wäre unverzeihlich von ihm gewesen, wenn er sie vergessen hätte, denn noch vor einem Jahr war sie seine Sekretärin gewesen. Das junge Mädchen mit den dunklen Locken war sehr scheu und zurückhaltend. Auf den Wunsch ihres Onkels hatte sie ihre Stellung in Scotland Yard aufgegeben. Dieser Mann erinnerte sich plötzlich daran, daß er eine Nichte hatte, und richtete ihr eine schöne Wohnung in Mayfair ein.
»Könnte ich Sie einmal sprechen, Mr. Rater? Es handelt sich um eine für mich sehr wichtige Angelegenheit ..., mit der Polizei hat sie allerdings nichts zu tun; das heißt, in einer Beziehung vielleicht doch - Sie waren früher immer so freundlich zu mir ...«
Sie sprach etwas zusammenhanglos, und er schloß daraus, daß sie aufgeregt sein mußte.
Nachdenklich rieb er seine Stirn. Er war im allgemeinen schwer zugänglich, und es gab nur wenig Menschen, mit denen er gern zu tun hatte, dagegen sehr viele, die ihm im Innersten unsympathisch waren. Zu Betty Linstead fühlte er sich jedoch hingezogen. Abgesehen davon, daß sie sehr hübsch war, arbeitete sie fleißig und gewissenhaft und sprach vor allem nicht viel. Junge Sekretärinnen, die viel redeten, konnten ihn zur Verzweiflung bringen.
»Ich habe gerade nicht viel zu tun, ich werde einen Besuch bei Ihnen machen«, versprach er.
Er hatte schon die unbestimmte Vorstellung, daß Brook Manor ein sehr vornehmes Haus sein mußte, aber als er vor dem Eingang stand, war er doch erstaunt über das prunkvolle Portal aus Bronze und Glas und über die vornehme Livree des Portiers. Schwere, dicke Teppiche lagen auf Gängen und Treppen, und Bettys Wohnung war in der luxuriösesten Weise ausgestattet. Auch die junge Dame selbst hatte sich vollständig verändert. Das war nicht mehr die einfache, bescheiden gekleidete Sekretärin, die er von früher her kannte. An ihren Handgelenken glänzten kostbare Armbänder, deren Wert ungefähr vier Jahreseinkommen des Chefinspektors ausmachten. Unwillkürlich wurde seine Haltung ihr gegenüber etwas reservierter.
»Ich bin Ihnen so dankbar, daß Sie gekommen sind, Mr. Rater«, sagte sie atemlos. »Darf ich Ihnen Artur - Mr. Artur Menden vorstellen?«
Ihre Nervosität hatte sich allerdings nicht gebessert, seitdem sie Scotland Yard verlassen hatte. Und wenn Mr. Rater schon verwundert war über die Eleganz der Wohnung, so überraschte ihn doch noch mehr die Anwesenheit dieses hübschen jungen Mannes.
»Es ist alles entsetzlich kompliziert«, begann Betty verlegen. »Es handelt sich nämlich um meinen Onkel und - Artur. Mein Onkel wünscht nicht, daß ich Artur heirate .«
Der Redner wußte kaum, was er darauf erwidern sollte. Zwar hatte er erwartet, daß es sich um irgendein schweres Problem handeln würde, aber daß sich die junge Dame in einen ihrer Familie nicht genehmen Herrn verliebt haben könnte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Sie schien zu ahnen, was in ihm vorging, und drängte ihn rasch zu einem großen, bequemen Lehnsessel.
»Ich muß Ihnen alles von Anfang an erzählen. Sie kennen doch Onkel Julian - natürlich, er ist sehr bekannt. Wie Sie wissen, ist er Junggeselle. Trotzdem war er immer sehr gut und lieb zu mir. Auch früher schon, als ich noch in Stellung war, hat er mir eine monatliche Unterstützung gezahlt, gerade genug, um leben zu können. Er hätte mir mehr geben können, aber er schätzt junge Damen, die sich ihren Unterhalt selbst verdienen. Damals sah ich ihn nur selten, ungefähr alle sechs Monate einmal, wenn wir uns nicht zufällig begegneten. Am Weihnachtstag speiste ich gewöhnlich mit ihm, wenn er in London war, und einmal lud er mich auch in sein Haus nach Ascot ein. Aber wir fühlten uns im allgemeinen beide nicht wohl bei solchen Zusammenkünften.«
»Du müßtest aber eigentlich Mr. Rater noch erklären, daß man nichts an Mr. Linstead aussetzen kann. Er hat nur eine Abneigung gegen junge Damen«, meinte Artur Menden. »Er ist ja ein komischer, alter Herr«, fügte er lachend hinzu, »und ich habe eigentlich keine Ursache, eine Lanze für ihn zu brechen, aber ich bin ihm gegenüber nicht ganz offen gewesen -«
»Der Fehler lag ganz auf meiner Seite«, unterbrach ihn Betty.
»Seit wann geht es Ihnen denn so gut?« fragte der Redner und zeigte auf die prachtvollen Möbel und die luxuriöse Einrichtung.
»Das möchte ich Ihnen ja gerade alles erzählen. Als ich noch in Scotland Yard für Sie arbeitete, bekam ich eines Tages einen dringenden Brief von
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