0731 - Seelen-Tränen
der kleinen Frau waren geschlossen. Sie saß im Schneidersitz auf dem blanken Boden. Langsam wiegte ihr halbbedeckter Oberkörper vor und zurück.
Schweiß rann in Strömen über ihr Gesicht. Die Lippen waren leicht geöffnet, bei jedem Atemzug stieß sie keuchende Laute aus.
»Haak N'ell, quo saran…« Zuerst mit brüchiger Stimme, dann mit jedem Wort lauter und kehliger werdend, zitierte sie den uralten Zauberspruch, der Seelen binden sollte.
»…al oahn… ay arrahm…«
Vor ihr materialisierte Etwas.
Dieses Etwas sah auf den ersten Blick aus wie ein köpf großer Stein, der in allen Farben des Spektrums schillerte.
Die Frau nahm den ›Stein‹, drückte ihn gegen die Brust und legte sich erschöpft auf den Rücken, ihr Atem ging stoßweise.
»Es hat geklappt«, murmelte sie glücklich, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Seanzaara wusste später nicht zu sagen, wie lange sie bewusstlos auf dem Rücken liegend verbracht hatte - mit dem ›Stein‹ auf der Brust. Das war ihr egal. Es zählte nur, dass der Zauberspruch gelungen war.
Und wieder hatte sie ein weiteres Stück zum Mosaik des Todes erhalten.
***
In der Nähe gab es einige Bauern. Wobei der Begriff Nähe, wie schon erwähnt, bei diesen Entfernungen eine andere Aussage hatte als in dicht besiedelten Gebieten. In dieser Gegend, dem südlichen Gebiet der Jakuten, in relativer Nähe des Flusses Lena, galt als Nachbar, wer fünfzig bis achtzig Kilometer voneinander entfernt wohnte. Und dann war es nicht sicher, ob beide dieselbe Sprache verwendeten.
Der Mann mit den grünen Augen hatte die Gedanken dieser Bauern aufgefangen. Wegen der wandelnden Parafallen war er dabei sehr vorsichtig zu Werke gegangen.
»Vorsichtig sein, Luc«, redete er sich selbst zu. »Sonst kann es sein, dass dein zweites Leben bald wieder vorbei ist.«
Er wurde nachdenklich. Normalerweise müssten die Parafallen seine magischen Aktivitäten schon bemerkt und reagiert haben. Warteten sie nur auf den richtigen Zeitpunkt, gegen ihn vorzugehen? Oder aber - welch phantastische Aussicht - hatte sein ehemaliger Tod seine Magie dermaßen verändert, dass er von diesen Fallen nicht geortet werden konnte?
Luc sog vor Überraschung die kalte Luft ein. »Kann es das geben?«, fragte er sich selbst. Natürlich erhielt er keine Antwort auf diese Frage.
Er rieb sich die Hände, ob vor Kälte oder vor Freude über die bisherigen Ereignisse, hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Seine Kleidung war zwar nicht so dick wie die von Teri Rheken und Zamorra, aber sie reichte für die hiesigen Verhältnisse. Wenn es schlimmer werden sollte, hatte er immer noch seine magischen Kräfte. Aber diese wollte er so selten wie möglich einsetzen.
Luc konzentrierte sich erneut auf die jakutischen Bauern. Sanft, fast schon zärtlich, drangen seine telepathischen Sinne in die Gedanken der einfachen Leute ein. Er erkundete, was sie gerade arbeiteten, wie sie lebten und wie er sie für seine Zwecke gebrauchen konnte.
Zwischendurch kehrten seine telepathischen Sinne immer wieder zu ihm zurück. Er sondierte dann langsam seine Umgebung. Schließlich konnte er nicht sicher sein, ob sich hier Bären oder Wölfe aufhielten. Im Zustand erhöhter Konzentration wäre er ein leichtes Opfer dieser Raubtiere gewesen.
Er besaß die Fähigkeit der Illusion. Und die setzte er ohne Hemmungen oder Gewissensbisse ein. Er wollte niemanden töten oder verletzen, aber sein Ziel war ihm wichtiger als alles andere.
Behutsam überredete er einen erwachsenen Bewohner des Bauernhofs nach dem anderen. So lange, bis jeder glaubte, aus eigenem Willen, mit Mistgabeln und Knüppeln bewaffnet, aus dem Haus zu gehen und gegen unbekannte Feinde zu ziehen.
***
Wassili zog das Genick ein. Wind kam auf, wurde heftiger und wirbelte Staub auf. Er hüllte Wassili in dunkelbraune Wolken.
Alles sah ein bisschen unwirklich aus…
Seltsam, dachte der grobschlächtige Mann. Das habe ich in dieser Art noch nie erlebt.
Er hatte sein ganzes Leben in dieser Umgebung verbracht und war mit allem vertraut, was diese Gegend ausmachte. Auch vom Wetter kannte er eine ganze Menge. Er konnte sogar an einem Tag Vorhersagen, welches Wetter der andere Tag haben würde. Und er wurde oft danach gefragt.
»Väterchen, wie wird das Wetter morgen?«, hörte er fast jeden Tag. Und immer hatte er die richtige Antwort parat.
Doch so seltsam wie heute war noch keine Wetteränderung eingetreten. Ihm schien es, als würden böse Geister dabei helfen, Sturm zu
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